Der ganz normale Ausnahmezustand. Kapital-Staat-Krise & Corona – Ein digitales Gespräch auf „Digital Radikal“ (15.4, 19.00)

Ausnahmestaat, Einschränkungen von Grundrechte, Polizei überall, geschlossene Grenzen…Die staatlichen Antworten auf die Coronakrise können zum verwechseln ähnlich sein mit Maßnahmen eines autoritären Staates. Ist es aber schon so weit gekommen? Und: sind Krise und die Möglichkeit einer autoritären Wende nicht schon im Normalbetrieb von Staat und Kapital gegeben?
Solidarität überall, Projekte von Verstaatlichung und Grundeinkommen, die Versicherung, dass es in jeder Krise eine Chance gibt…Ist die Stunde „der Linke“ gekommen?
Ein Gespräch darüber, weshalb Linke weder in Panik geraten noch in Euphorie ausbrechen sollten und stattdessen, an eine konsequente Kritik an Kapital und Staat auch in dieser bestimmten Situation festhalten sollten – gerade in Hinblick auf eine mögliche Praxis in dund nach der Krise.

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Besonders Gehör haben einige Wortmeldungen bekommen, für die es heißt: Es zeigt sich mit Corona, wie moderne „Macht“ schon immer funktioniert  –  mit Corona habe sie einen Anlass, um ungehemmt und unverstellt zu handeln:  Regieren geht über zum permanenten Ausnahmezustand; Punktuelle Maßnahmen ersetzen nachvollziehbares Gesetze, Grundrechte werden eingeschränkt; 
alle stehen ganz zur Disposition einer Macht, die (wortwörtlich) über leben machen und sterben lassen entscheidet; Politik gibt es nicht, nur das Spektakel einer Katastrophe, die man mit technischen un polizeilichen Eingriffen bewältigen muss; Menschen haben schon längst ihre Freiheit für Sicherheit eingetauscht und sich als politische Subjekte preisgegeben. 

Andere sehen in der Krise eine Chance dafür, dass die Linke ihre historische Aufgabe endlich wahrnehme. Die Krise wird fast mythologisch als etwas, was ohne weiteres unerwartete Handlungsmöglichkeiten öffnet, imaginiert. Eine Analyse der realen Verhältnissen und der Bezug zur Kritik des gesellschaftlichen Ganzen bleiben meistens aus: unreflektierter Aktionismus, Parolen und Wunschdenken nehmen sich Raum. 
Sicherlich ist da Einiges dran. Doch sollten wir gerade hier eine fenigliedrigere und radikalere Kritik üben, die Widersprüchlichkeiten klar bennennt. Zum einen wäre da die triviale Einsicht, dass es sich aktuell um einen realen Notfall handelt, eine Pandemie auf die mit entsprechenden Maßnahmen geantwortet werden muss. 
Zum anderen verlangt gerade die Einsicht darin, dass die Krise sowie die Tendenz zum Autoritären auch ohne Corona vorhanden sind, dass man die Frage stellt, wie diese in der Grundstruktur der gegebenen gesellschaftlichen Totalität fußen: im Zusammenspiel von Verwertung, Staat, Recht. Die liberale Gesellschaft ist dabei nicht als verkappter Faschismus zu verstehen, sondern vielmehr als eine Widersprüchliche Einheit von Momente der Allgemeinheit/Recht/Freiheit und Momente der Ausnahme/Gewalt/Zwang, die sich gegenseitig vermitteln und im Staat den Sachwalter ihrer Einheit finden.  Auch sollte man im Blick behalten, dassdie Krise keine bloß hinzutretende oder imaginierte ist, sondern im Prozess des Kapitals mitbegriffen ist (Phänomene wie Corona dienen vielmehr dazu, das Bewusstsein der Krise zu stärken). Dafür ist ein Begriff bürgerlicher Gesellschaft (in der Einheit von Waren-, Staats- und Rechtsform) nötig.
Vor der eigenen Krise gesetellt, gebährt bürgerliche gesellschaft Bewältigungsstrategien, die aber keineswegs eine Emanzipation von den Widersprüchen bedeuten. Eine erste Form ist die, die die Rolle des Staates gestärkt wissen will: Der Staat soll seine Gewalt entfalten und sich gegen die Gefahren einsetzen. Diese Strategie kann explizit autoritär sein aber auch sozialdemokratische Züge aufweisen, etwa in der Forderung nach Verstaatlichung bestimmter Sektoren. Eine zweite Variante ist dagegen von einem Ressentiment gegen rechtsstaatliche Vermittlungen und repräsentativer Demokratie gekennzeichnet und schwärmt von einer Unmittelbarkeit von „Volk“ (sei es auch „wir hier unten“) und Regierung – in ihrer extremeren Variante, verlangt sie gar die Aufhebung der Vermittlungen in einem Wahn der totalen Einheit und Unmittelbarkeit. Beide Formen und ihre Varianten können durchaus  vermischt auftreten. Gemeinsam ist der Wunsch, die Unsicherheit der Krise aufzuhalten, in dem man aus dem Staat oder aus dessen Umwandlung einen Fels in der Brandung mache – ungeachtet dessen stets partielle Souveränität angesichts des Kapitalverhältnisses. Die extremste Form davon strebt gar an, sich mit der Katastrophe – als quasi externer Angreifer – zu identifizieren um sie nach außen zu wenden. Damit wird ein Kollektiv beschworen, das gleichzeitig exkludierend und aggressiv nach außen wirkt und im gleichen Zuge nach innen Autonomie der Einzelnen gänzlich aufhebt. Von diesen Sehnsüchten sind auch linke Projekte nicht unbedingt frei. 
Wir halten fest: Corona ist der Auslöser. Die Krise war aber schon hier. Es ist die Krise, die Kapitalismus immer mit sich führt und in der er sich umorganisiert (nicht untergeht!): gleichzeitig autoritärer und flexibler wird, die Ausbeutung intensiver macht, das Widerstandspotential unterdrückt. Darin spielt der Staat eine zentrale Rolle, während er selbst starke Veränderungen mitmacht.
Im Gespräch soll erkundet werden, wie sich diese allgemeine Tendenzen zum Autoritären mit der gegenwärtigen Krise verbinden: Was kommt danach? Folgt eine komplette Liberalisierung und Prekarisierung? Folgt eine Verbreitung der nationalen „illiberalen Demokratien“ nach Orbans Vorbild?  Folgt ein neuer New Deal und eine Neuaflage des Sozialstaates? Folgt eine graswurzelbewegte Transformation von Produktion und Reproduktion, eine Landnahme der Commons? Wird die Frage ums Ganze gestellt? Und: Was heißt das für emanzipatorische Kämpfe jetzt?