Nachbetrachtung zur Kundgebung „Nein zur Annexion“

Abschlussbewertung – Demo: „Nein zur Annexion“  

Hiermit möchten wir eine Nachbetrachtung der „Nein zur Annexion“-Demo vom 25.07.2020 in der Münsteraner Innenstadt abgeben. Dazu möchten wir konkrete Beiträge der teilgenommenen Gruppierungen und Einzelpersonen in den Kontext unserer zuvor veröffentlichen Analyse „Day In – Day out: Gegen Antizionismus und die Verzweckung antirassistischer Anliegen“ stellen.

 

Grunddaten zur Kundgebung:

  • An der Kundgebung haben etwa 100 Personen teilgenommen 
  • Vertreten war neben Der Linken Münster, noch der SDS, die Linksjugend-Solid aus Hamm, der Afrika e.V. Münster und viele einzelne Redner*innen (ohne Zugehörigkeit)
  • Kritisch begleitet wurde die Kundgebung von rund 60 Menschen auf der vom Jungen Forum Münster organisierten Gegenkundgebung 
  • Die Kundgebung dauerte ungefähr zweieinhalb Stunden

Unsere Einschätzungen haben sich leider bewahrheitet: Bei der Kundgebung handelte es sich keineswegs um eine Veranstaltung, die eine Kritik an den Annexionsplänen der israelischen Regierung in den Fokus stellen wollte. Dieses Thema wurde als Anlass genutzt, um eine virulente „Israelkritik“ zu reproduzieren, die auf einer Delegitimierung Israels hinausläuft.

Die nachfolgenden Referenzen zeigen in eindrücklicher Weise die(israelbezogenen) Chiffren und (verkürzten) Kritikansätze staatlich-kapitalistischer Wirkweisen dienen. 

A. Inhalte

Wir möchten hier kurz drei der Redebeiträge wiedergeben und anhand dieser typische Verzerrungen, die den „propalästinensischen“ Diskurs kennzeichnen, ersichtlich machen. 

1. Beitrag (über eine queere Person, die vor der Küste Haifas ertrank)

Es wird berichtet, die israelischen Behörden hätten sich nicht für das Schicksal einer vermissten (queeren) Person mit israelischer Staatsangehörigkeit interessiert. Am Ende ertrank diese Person vor der Küste Haifas. Die Redner*innen unterstellen deshalb, dass sich Israel zwar offiziell hinter queere Themen vorantreibe stelle, diese aber nur jüdischen Israelis zukommen lasse. Dazu wird behauptet: „Jetzt ist Israel ein Ort, an dem die Rechte der Homosexuellen instrumentalisiert werden, um die Unterdrückung der Palästinenser*innen zu rechtfertigen.“

Die Aussage bedient das altbekannte Vorwurf des „Pink-Washings“: Israel würde die gleichberechtigte Anerkennung von Identitäten und Sexualitäten* als perfide Strategie nutzen, um Menschrechtsverletzungen zu verschleiern. 

Es wird aber auch das unterschiedliche Maß deutlich, an dem Israel gemessen wird. Zum einen wird die reale Besserstellung queerer Menschen in Israel im Vergleich zur Verfolgung in allen Nachbarländern relativiert. Zum anderen wird ausschließlich an Israel der Anspruch gestellt, seine Politiken (seien es Hilfsgüterleistungen an die Betroffenen der Explosion in Beirut oder Gleichstellungspolitiken) grundsätzlich ohne jegliche politische und ökonomische Interessen zu verfolgen; das gegenteil ist aber der Normalfall in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft. Das Handeln Israel sei also niemals „authentisch“ sondern diene stets zur Propaganda und Rechtfertigung der eigenen Politik. Es ist aber der wahnhaft Fixierte, der im Handeln seines Feindobjekts immer eine heuchlerische Handlung sieht, die zur Verschleierung seiner Aggression diene.  

2. Beitrag (über Diskriminierung von Palästinenser*innen)

Israel verhalte sich seit seiner Gründung als „Unterdrückungsorgan“ gegenüber den Palästinenser*innen, die hier als „indigene arabische Bevölkerung“ bezeichnet werden.

Israel sei ein „ethnisch-religiös begründeter Staat“, das entgegen des „Wunsches“ der“indigenen“ arabischen Bevölkerung, wie der umliegenden Länder, gegründet worden. Die Flucht,Vertreibung und Auswanderung von 100tsd. Araber im Zuge des Aggressionskrieg gegen den neugegründeten jüdischen Staates wird als „ethnische Säuberung“ bezeichnet; Israel sei damit von Anbeginn ein „siedlerkolonialistischer Staat“.

Man ist darüber Ratlos, wo man mit der Kritik an diesen Aussagen anfangen soll. Einzig von einer indigenen arabischen Bevölkerung zu reden, unterschlägt die ununterbrochene Existenz von jüdischen Menschen im Raum Palästina, bis zur Gründung Israel. Die ausgeführte Argumentation ist in ihrem Kern völkisch: Sie geht von einer Bindung von „Blut und Boden“ aus, sie verlangt eine vermeintliche „natuerlichkeit“ eines Staatsgebildes und Kritisiert Israel ob seiner „kuenstlichkeit“. Es wird unterstellt, es hätte eine homogene sich selbst als „Palästinenser*innen“ identifizierende Bevölkerung gegeben deren Bindung an das Territorium Israels naturgegeben sei. Die Völkerrechtliche Voraussetzungen der Gründung des Israelischen Staates und dessen Legitimität werden dabei verschwiegen. Auch wird der Zusammenhang der Flucht/Vertreibung/Auswanderung vieler Palästinenser*innen verschwiegen: Ein Aggressionskrieg arabischer Länder gegen Israel mit dem Ziel, die Staatsgründung rückgängig zu machen. Dass das Schicksal der Palästinenser*innen ein ganz anderes hätte sein können, hätten die palästinensische Führungen eine Staatsgründung vorangetrieben und nicht, gemeinsam mit einem großen Teil der arabischen Welt, die Zerstörung Israels als Ziel verfolgt (und diese immer wieder Versucht umzusetzen) wird auch komplett ausgeblendet. 

Die Rhetorik des „Siedlerkolonialistsichen“ Staates läuft selbst darauf hinaus, Israel als solches zu delegitimieren: Zählt jenes Territorium als ursprünglich arabischer Boden, kann Israel als nichts anderes, als eine Fremdbesetzung betrachtet werden.

Die Bezeichnung Israels als „ethnisch-religiös“ ist nicht korrekt; Israel ist eine multiethnisches und multireligiöses Land. Dessen jüdischen und zionistischen Charakter leitet sich primär von dessen unersetzbare Funktion, als bewaffneter Souverän dem Selbstschutz der Juden und Jüdinnen vor dem globalen und potentiell eliminatorischen Antisemitismus zu dienen und Juden und Jüdinnen einen Raum zu gewähren, in dem sie ungestört sich als Individuen selbstbestimmen können. Die Notwendigkeit dieses Raumes und damit des in dieser Weise ausgelegten jüdischen Charakter des Israelischen Staates zu verkennen, bedeutet nichts von der Shoah verstanden zu haben; diesen Staat als ethnisch-religiöser Staat zu bezeichnen ist wiederum das Gegenteil der Wirklichkeit. 

3. Beitrag (über antikapitalistische Kritik an den Verhältnissen)

Der Beitrag verweist auf die ökonomische Interessen, die hinter dem Siedlungsbau stehen. Eine Kritik der Siedlungen kann selbstverständlich sein. Doch die Siedlungspolitik wird innerhalb des Framings der Kundgebung zur Chiffre für Wesen und Existenz Israels genommen: Israel sei eben selbst „siedlerkolonialistisch“. 

Die Operation ist Perfide: Es wird ein Ticket konstruiert zwischen antizionistischen Kampf und Arbeiter*innenkampf. Die Tatsache, dass in der Region sich die Interessen des Kapitals als Interessen des jüdischen Staates und von Teilen der jüdischen Bevölkerung primär darstellen, dient dazu den Fokus von der Überwindung von Staats und Wertform auf die Abschaffung Israels zu verschieben. Was in Wahrheit „Weltrevolution“ heissen sollte wird in „Antizionismus“ übersetzt und damit unterstellt, dass der angedeutete gemeinsame Arbeiter*innenkampf nur antizionistisch sein könne. Dabei wird nochmals die spezifische emanzipatorische Bedeutung des jüdischen Staates unterschlägt, waehrend nur an Israel die problematischen Aspekte des bürgerlichen Staates exemplifiziert werden. 

Warum der Zionismus notwendiger Bestandteil einer emanzipatorischen Linke ist, kann hier nochmal nachgelesen werden: https://eklatmuenster.blackblogs.org/2018/07/24/ja-israel-darum-eine-kleine-handreichung/

Durch Redebeiträge, wie die oben zusammengefassten, werden nicht nur Phänomene, die mit der spezifischen Funktion und Lage Israels verbunden sind, aus ihrem Zusammenhang gerissen, sondern aktiv daraufhin gearbeitet, ein Ticket zwischen Antirassismus und Israelfeindschaft zu etablieren. Die Operation läuft darauf hinaus, Israel aus den gewalttätigen, immanenten Paradigmen, die mit einem bürgerlichen Staat, mit einer globalen kapitalistischen Wirtschaftsordnung einhergehen, aber auch aus der historischen wie hiesigen Notwendigkeit Israels, sich vor (vernichtungs-) antisemitischen Angriffen und Existenzbedrohungen zu verteidigen, rauszunehmen und für eine grundlegende Kritik zu öffnen. Entgegen der Erwähnung im Aufruftext der Demo „Natürlich nehmen wir die besonderen Umstände vor der israelischen Staatsgründung zur Kenntnis“ (zudem eine ekelhafte Verharmlosung) wird gerade nicht die Singularität der Shoah in Verbindung zur einzigartigen Staatlichkeit Israels gesehen. Der Satz dient einzig und allein der Immunisierung vor Kritik. Israels Bedeutung wird ignoriert. Antisemitismus wird verschwiegen. Die Geschichte verleugnet. 

B. Akteure

Die Starke Beteiligung von klar identifizierbare politischen Akteure relativiert die Selbstbehauptung der Veranstalter*innen, es handele sich um eine Kundgebung von Betroffenen. Vielmehr stellt sich die Kundgebung dar als Spitze des Versuchs einiger Teile der Münsteraner Linke, in identitärer Manier einige „antiimperialistische“ Positionen in der Öffentlichkeit und im Linken Stadtdiskurs zu (re)etablieren. Schon im Vorfeld der Demonstration konnte man eine Starke Mobilisierung durch die Münsteraner Linksjugend und SDS und der linksjugend Hamm beobachten. Letztere ist dafür bekannt, antizionistische Positionen an erster Stelle auf ihrer Agenda zu führen und ist in Vergangenheit z.B. durch die Verbreitung der Parole „From the River to the Sea…“ aufgefallen. Auf der Kundgebung konnte auch eine starke Präsenz von Militanten einiger dem aufgelösten „Jugendwiderstand“ nahestehender Gruppen festgestellt werden, die teilweise versuchten, die Gegenkundgebung einzuschüchtern. 

C. Politische Bedeutung

Gerade durch die Wahnhafte, zum Teil antisemitische, radikal antizionistische Kritik, eine Kritik an polizeilicher Praxis, an Entwicklungen in der israelischen Politik, an rassistischer Muster, an Diskriminierungen, die Palästinenser*innen als Palästinenser*innen erfahren (was Anliegen der Organisator*innen sein sollte),  verunmöglicht und als Ventil für antiisraelische Ressentiments verwendet. 

Es ist somit kein Zufall, dass die erste Kundgebung nach der BLM Kundgebung in Münster, die Anwendung der wichtigen Einsichten der gegenwärtigen antirassistischen Bewegung nutzt, um sie sogleich auf Israel zu beziehen: Das lässt sich nicht anders erklären als durch eine Form von Fixierung. 

Die Beobachtung, dass die Demo von palästinensischen Aktivist*innen initiiert wurde, liefert zwar eine gewisse Plausibilisierung dafür, weshalb in einer deutschen Stadt die Annexionspläne thematisiert werden, nicht aber für den tatsächlichen Charakter der Veranstaltung, der für uns zu weiten Teilen darin bestand, antizionistische Positionen als Essential linker Politik darzulegen.

Der praktische Kampf gegen Antisemitismus ist jedoch zwingendes Anliegen jeder emanzipatorischen Bewegung: Und dazu gehört auch ein adäquates Verständnis des Staat Israels. Auch eine notwendige Kritik an den humanitären Zuständen für viele Palästinenser*innen, führt nicht um ein Ernstnehmen vernichtungantisemitischer Bestrebungen in Nah-Ost und damit die Markanz der realpolitischen Situation Israels herum. 

Damit bewerten wir die Kundgebung und die Gruppe, die sie initiiert hat, aus dreifacher Hinsicht als absolut ablehnungswürdig: 

        1) Sie reproduziert antiisraelische Ressentiments, antisemitische Motive und entfaltet antisemitische Implikationen – das würde genügen;   

        2) Sie ist Moment eines identitären Kampfes eines Teils der münsteraner „Linken“, das von einer klar identifizierbaren Seite Initiiert wird;

        3) Sie durchkreuzt die Entwicklungen innerhalb antirassistischer Kämpfe und Bewegungen und versucht diese für ihre eigenen Anliegen zu instrumentalisieren und pachten. Damit fügt sie antirassistischen Kämpfe erheblichen Schaden hinzu (Zur Relevanz von antirassistischen Kämpfen verweisen wir auf unseren vorangegangenen Beitrag).