Gestern hat bloß die Tür der Synagoge und der Einsatz einiger Juden und Jüdinnen in Halle einen antisemitischen Massenmord verhindert. Ursprünglich hatte der Attentäter geplant, eine Moschee oder ein Linkes Zentrum anzugreifen.
Dann beschloss er zu dem, was er als Quelles alles Übel versteht zu gehen – wie er erklärte. Weil er scheiterte, kehrte er zurück zu einem rassistischen Akt und erschoss Menschen in der Nähe eines von Kurd*innen betriebenen Imbisses.
1. Ideologie des Attentäters – Antisemitismus als Kitt
Dieser Ablauf entspricht dem nun bekannten Weltbild des Attentäters. Der Attentäter ist Vertreter einer gegenwärtig sehr verbreiteten Ausprägung antisemitischer Verschwörungstheorie: Feminismus, angefeuert vom (jüdischen) “Kulturmarxismus” führe u.A. zur niedrigen Geburtenrate in Europa. Diese diene zur Rechtfertigung einer – jüdisch gesteuerten und finanzierten – Masseneinwanderung, mit der die “europäischen Völker” zersetzt werden sollen, um leichter von – jüdischen – „Eliten“ Kontrolliert werden zu können. Die Regierungen der Welt seien ohnehin “Zionistisch okkupiert”. Es ist die alte und stets lebendige Laier der Juden als Anti-Volk, das „Völker“ dazu verhindert, zu sich zu kommen und ihre „Identität“ zu entfalten.
Im Weltbild des Rechtsextremen gehören diese Elemente eben zusammen: Antifeminismus, Rassismus, und Antisemitismus. Antisemitismus ist dabei der Kitt – auch dort, wo dieser nicht explizit zum Ausdruck kommt. Denn verschwörungstheoretische Muster und faktisch völkisches Denken mündet unweigerlich in Antisemitismus.
Weil es nun in Europa kaum mehr Juden gibt – als Folge der auf dem selben Wahn gewachsenen Massenvernichtung die in der unversöhnten Gesellschaft stets als Möglichkeit impliziert ist, aber in Deutschland und durch die Deutschen zur Wirklichkeit geworden ist – kommt dieser Antisemitismus seltener direkt zum Zug und sucht öfter seine unmittelbaren Opfer unter anderen Gruppen aus, die als Mittel der Verschwörung der “Nationsenzersetzenden Juden“ ausgemacht werden: Migrant*innen, Frauen, Linke. Die antisemitische Motivation bleibt aber. Sich selbst bezeichnete der Täter schließlich als “Internet SS”. Die Intention ist klar.
All das ist aber nicht nur Kernbestandteil der Weltanschauung der Identitären, die von den Attentäter von Utoya1 und Christchurch geteilt wurde, sondern wird auch in abgewandelter Form von der parlamentarischen “neuen” Rechten wiederholt: von Salvini bis zu AfD & FPÖ , von Orban bis Le Pen, von Bolsonaro bis Erdogan. Sie müssen dabei nicht explizit sei – auch wen sie es häufig genug sind -, es genügen Andeutungen: „Du weißt ja schon..,“.2
Durch das Video bekommt man auch einen Einblick in das Selbstbild des Attentäters.
Einerseits bemitleidet er sich als Verlierer, stellt sich als vielfach gekränkt dar. Das zu erwähnen, heißt keinesewegs, die Tat zu psychologisieren und auf private Gründe zurückzuführen. Zum einen ist das Gefühl Ohnmächtig und zum Scheitern verdammt zu sein – wortwörtlich “wertlos” oder unnützig, potentiell überflüßig – in der objektiven Struktur einer Gesellschaft verankert, deren Prinzipien Verwertung und Konkurrenz sind. Diese Kränkung entlädt sich gerne durch Aggression, gegen die, die als schuldige für das Versagen halluziniert werden: in diesem Falle Juden und Frauen. Auch findet diese Kränkung eine Kompensation in der rassistischen Aggression gegen die, die als minderwertig ausgemacht werden. Die eigene Aggression schreibt man dann den eigenen Opfern zu: Sie seien eine Bedrohung, vor der man sich und andere schützt.
Anderseits dient die mörderische Tat als Selbstermächtigung. Im Moment der Gewalt setzt sich der Attentäter als Allmächtig, indem er die Wirklichkeit seinem Wahn anpasst: Er meint die Welt korrigieren zu müssen und, von all dem, was sie falsch und unrein macht, zu befreien. Sich selber versteht er dabei als Selbstlos und Heldenhaft, Diener eines höheren Zweck, der ihn wiederum adelt und Teil eines herzustellenden „Ritterheers“ macht.
Doch ergehen diese Reaktionen nicht automatisch. Sie werden hervorgerufen durch rechte Ideologie, die eine falsche Erklärung für Missstände liefert, deren Ursachen man nicht durschschauen will. Es gilt: Ein Antisemit und Rassist handelt antisemitisch und rassistisch nicht aus Frust oder gar aufgrund einer psychischen Erkrankung, sondern weil er Antisemit und Rassist ist – und sein will. Dazu aber wird ihnen geholfen von allerlei Agitator*innen.
Auch besteht keine Alternative zwischen politischer Tat und Wahnhaftes verhalten. Rechte Ideologie ist Wahn in politischer Form, sie ist das theoretisierte Umkippen der „rationalen Irrationalität“ bürgerlichen Normalvollzug in offenem Wahn: in Barbarei und Raserei. So muss man keine Organisierte Verbindung zwischen dem einzelnen Handelnden und organisierte Rechte nachweisen, um seinem Handeln politische Bedeutung beizumessen. Sein Handeln ist genau darin politisch, dass er sich in seinem Wahn als einzelner mobilisieren lässt und das Projekt der rasenden Vernichtung auf sich nimmt, sich selbst zum ausführenden Organ machend. Darin ist er eins mit der potentiell mobilisierten Volksmasse.
Gerade das aber ist ein Merkmal rechten Terrors, der nicht ohne die Agitator*innen und deren Normalisierer*innen zu haben ist.3
2. Rechtsterrorismus kommt nicht aus dem nichts
Rechter Terror wurde in Deutschland lange verharmlost. Mathias Quent rekonstruiert das in einem längeren Twitter-Thread:
„Antisemitismus wurde oft als überwunden “importiert” externalisiert. Beides ist falsch (ohne zu leugnen, dass auch islamischer Antisemitismus und Terrorismus Gefahren sind, ohne zu leugnen, dass es auch linken Antisemitismus gibt und vor allem: Das Antisemitismus tief verankert ist). Es gab immer wieder rechtsterroristische Anschläge mit antisemitischer Motivation, etwa die bis heute nicht restlos aufgeklärte Ermordung von Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin (1981) oder den Bombenanschlag in Düsseldorf #Werhahn 2000 – ebenfalls nicht aufgeklärt. Auch in vielen neueren Fällen von #Rechtsterrorismus in Deutschland und darüber hinaus findet sich #Antisemitismus deutlich, ohne Debatte darüber. 2016 tötete David S. in München am Jahrestag der Anschläge von Utoya 9 Menschen aus Einwandererfamilien. Ein früherer Freund sagte aus, S. sei “sehr antisemitisch” gewesen und habe “oft über Israel geschimpft und Juden beleidigt”. Dieses #Hassverbrechen wird bis heute nicht von der Bayerischen Landesregierung als rechtsextremistisch eingeordnet. Der mutmaßliche Rechtsterrorist Franco A. schrieb in einer zutiefst antisemitischen und identitär-beeinflußten Masterarbeit über die angebliche jüdische „Subvasoren“ als “Drahtzieher” hinter der “Vermischung verschiedener Rassen”. (Die Arbeit wurde nicht angenommen – er durfte sie neu schreiben – keine Disziplinarverfahren folgten). Franco A. soll einen Anschlag auf die jüdische Menschenrechtlerin Anetta Kahane vorbereitet haben. Öffentlich wurde das kaum thematisiert. Es gab immer wieder Angriffe auf jüdische Einrichtungen und Personen, aber ein Attentatsplan auf eine voll besetzte Synagoge ist eine neue Qualität“.
Wir fassen zusammen: Rechte Täter kommen nicht aus dem Nichts und radikalisieren sich nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Sie benötigen dafür ein rechtes Umfeld und greifen für die Ausführung ihrer Taten fast immer auf rechte Netzwerke zurück. Rechte Morde sind Teil rechter Ideologie und müssen daher auch im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden werden, die diese Ideologie hervorbringen (Es gilt immer noch, was Horkheimer schrieb: “wer vom Kapitalismus nicht sprechen möchte, sollte vom Faschismus schweigen”).
Dazu gehört aber eben auch ein Klima, in dem sich rechte Terroristen trauen, ihre Pläne umzusetzen – in dem das niedrigste entfesselt wird. Agitator*innen, die gerne auch in Parlamenten Sitzen, tragen zu dieser Entfesselung bei.
3. Versagen und Forderungen
Vor diesem Hintergrund lässt sich ein Vielfachversagen feststellen.
Es ist ein Versagen, wenn erst jetzt von “Alarmzeichen” geredet wird, wenn es schon deutlich zu spät ist und man besser über die antisemitische Gefahr belehrt sein müsste.
Auch der zu beobachtende Reflex, die Verantwortung dafür nach Ostdeutschland zu schieben ist fatal – sowie zu glauben, dies wäre ein neues Phänomen und nur mit dem erstarkendem Rechtsruck verbunden.4
Es ist ein Versagen, wenn Mittel für Prävention und Bildungsarbeit gestrichen werden: Denn eine der Lehren aus dem Nationalsozialismus ist, dass nur die Stärkung von Reflexion und kritisches Bewusstsein vor Regression in die Barbarei, vor destruktiver Entfesselung der Triebe, vor Wahn des Begehrens der Auflösung in die absolute Identität der “Volksgemeinschaft” vermeiden kann.
Betroffenheit und Beileidserklärungen genügen nicht und verpassen, worum es geht.
In Trauer und Wut fordern wir:
– Auf die Opfer hören.
– Antisemitische Gefahr ernst nehmen
– Rechte entwaffnen, rechte Terrorvernetzungen zerschlagen;
– Über die Verstrickungen von Verfassungsschutz und rechte Netzwerke aufklären;
– Rechte Agitator*innen – auch in den Parlamenten – Isolieren, ihnen keine Bühne Anbieten, ihre Selbstverharmlosung zurückweisen;
– Zivilgesellschaft stärken, z.B., indem weiterhin die Arbeit für politische Bildung unterstützt wird;
Es ist aber auch ein Versagen der Linken.
Antisemitismus bleibt weitgehend unbegriffen und ist als dumpfer Antizionismus oder “Israelkritik” sowie in einer falschen Gestalt der Kritik des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft selbst in relevanten Teilen anwesend.
Auch hier nutzen Beileidsbekundungen und Lippenbekenntnisse wenig. Tote Juden werden in Deutschland gerne zum zweiten Mal zu Opfer gemacht: Opfer der Instrumentalisierung durch Menschen, denen das Wohl von lebenden Juden egal ist und die einen „Biotop mit toten Juden“5 pflegen.
Selbstverständlich sollen jüdische Menschen überall in der Welt frei von Angst leben können. Aber in einer Welt, in der die Ursachen für Antisemitismus nicht abgeschafft werden, zeigt sich: wenn der Antisemitismus Aufschwung bekommt und mörderisch wird – und das kann immer der Fall sein – gibt es keinen anderen sicheren Schutz für Jüdinnen und Juden der Welt als ihr Selbstschutz: Der jüdische Staat, Israel ist Bestandteil davon. In Trauer und Wut fordern wir auch: Solidarität mit Israel.
Für die Befreite Gesellschaft.
Gegen Jeden Antisemitismus – Am Israel Chai!
(*) Unsere Stellungnahme zum Redebeitrag
„Am Donnerstag letzter Woche hielten wir einen Redebeitrag auf der von uns mit-initiierten Kundgebung vor dem Rathaus anlässlich des antisemitischen Terroranschlags in Halle. Aufgrund der an uns herangetragenen Kritik seitens Betroffener und eigener gruppeninterner Reflexion, möchten wir uns/sehen wir die Notwendigkeit zu diesem Redebeitrag (zu) äußern.
Unser Redebeitrag war ein Versuch der Analyse und politischen Einordnung der schrecklichen Ereignisse in Halle. Die Kundgebung gewann sehr schnell den Charakter des Gedenkens und der stillen Anteilnahme.
Wir sehen ein, dass diese Kundgebung nicht den angebrachten Ort und insbesondere den zu frühen Zeitpunkt für eine politische Analyse darstellte; insbesondere angesichts anwesender Betroffener. Das notwendige Fingerspitzengefühl hat uns in diesem Moment gefehlt.Wir möchten uns an dieser Stelle ausdrücklich bei all jenen von Antisemitismus betroffenen Menschen entschuldigen, die in ihrer Trauer und Anteilnahme durch unseren Redebeitrag gestört wurden.“
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1 Vgl. Veronika Kracher, Menschen töten und sich selbst leidtun (www.tagesspiegel.de/politik/tatverdaech…. Die Typologie des Attentäter rekonstruiert u.A. Theweleit ausgehend vom Attentäter von Utoya (Theweleit, Das Lachen der Täter: Breivik u.a.. Psychogramm der Tötungslust, Wien 2015). Es geht ihm darum, die „Kulturmarxistische Diktatur“ in Europa und die imperante „Meinungszensur“ des „Multikulturalismus“ abzuschaffen um die Gefahren eines „Bevölkerungsaustausches“ durch „Muslimische Massenzuwanderung“ und eines drohenden „Bürgerkrieges“ abzuwenden. Dafür seien „präventive Angriffe“ nötig (S. 142-153). Der Täter ist zwar ein „Einzelkämpfer“, imaginiert sich aber als Teil einer entstehenden Armee (S. 27) und weiß sich geistig mit vielen anderen verbunden. Er selber sei ein „Patriot“, der „Verantwortung übernehme“ und bereit sei, sein Leben zu opfern (S. 152). Nicht er sei der Wahnsinnige und Unvernünftige, sondern jene, die den für ihn unvermeidbare Bürgerkrieg herbeisteuern. Dabei lässt sich zum einen eine Reduktion von Vernunft auf instrumentelle Vernunft erkennen (der Attentäter schmeißt um sich mit Daten, Statistiken und Kalkulationen um seine These zu „belegen“), die zum Punkt kommt, gerade das umgekehrte von Vernunft im „emphatischen Sinne“ zu bejahen: Die Affirmation der herrschaftlichen Aufteilung der Gattung Mensch, die sich in der Rede von Völker konkretisiert. Zum anderen lässt sich eine klassische Täter-Opfer-Umkehr erkennen: er habe gehandelt, um Böses zu vermeiden.4
2 Vgl. Th.W. Adorno, Anti-Semitism and Fascist Propaganda.
3 Leo Löwenthal und Norbert Guterman schreiben 1949 in Prophets of Deceit (A Study of the Techniques of the American Agitator“ über das Verhältniszwischen faschistischer Agitation -Verschwörungsdenken – Wahnhafte züge: „Der Agitator […] bedient sich populären Stereotypen nur, um die vagen Ressentiments zu verstärken, deren Ausdruck sie sind. Er hetzt sein Auditorium zu sozialen Reaktionen auf, die denen des verfolgungswahnsinnigen Individuums gleichen, und er bringt es dahin vor allem durch ein endloses Breittreten der Verschwörungsidee. “Nach seinen Enthüllungen sollen Pläne bestehen, dass immer neue Einwanderermassen in das Land kommen. Diese Fremden erscheinen dann als eine gefährliche Konkurrenz, […] verbündet mit den ‚internationalen Bankiers‘.Die Heimatlosigkeit des Flüchtlings wird das psychologische Äquivalent für unterdrückte Triebe des Zuhörers. Solch eine Gleichsetzung ist eine Vorbereitung für ein Loslassen verbannter Triebe gegen ein verbanntes Volk. Der Agitator empfiehlt ein „reinigendes Bad“. Die Projektion der eigenen unterdrückten Triebe auf den Feind gemahnt die Zuhörer jedoch gleichzeitig daran, dass diese Triebe unanständig und abstoßend sind. So erzeugt die Projektion gleichzeitig Lustgewinn und Feindeinstellung.“
4 Vgl. Créme Critique, Deutschland im Herbst. www.facebook.com/cremecritique/posts/29…
5 Eike Geisel: Die Banalität der Guten. Deutsche Seelenwanderungen, Berlin 1992, S. 57.