Noch bleibt unser Begehren namenlos. Diskussion einiger Texte von Mark Fisher

Am 19.9.2020 lesen und diskutieren wir einige Stellen von Mark Fisher.
 
Es geht um das „Gespenst einer Welt, die frei sein könnte“, die vermeintliche Alternativlosigkeit des „kapitalistischen Realismus“ und das Projekt eines „Acid Communism“.
 
 
 
Seit den 70er hat der Kapitalismus eine neue Dynamik entfaltet: Nicht mehr steht er im Weg zu einer befreiten Gesellschaft: Nun ist er aktiv bemüht, das „Gespenst einer Welt, die frei sein könnte“ zu vertreiben – die real gewordene Möglichkeit einer „Red Plenty“, der kollektiven Fähigkeit, als freigesetzte Individuen umeinander zu sorgen, Beziehungen zu gestalten, autonom seine Subjektivität zu produzieren zu verhindern. Diese Möglichkeit und das Wissen darum, gilt es dem „kapitalistischen Realismus“ zu verdrängen. Dabei setzt sich ein Zeitgefühl durch, in dem jede Zukunft verschlossen scheint: Die Zeit wird Flach, in ihr reproduziert sich das ewig Gleiche. Auch die Vergangenheit soll zu etwas gemacht werden, was nicht länger Erinnerungswürdig ist. Eine Kollektive Depression greift um sich, kaum mehr wahrgenommen. Langeweile – als das, was Menschen als begehrende und reflexive Wesen einholt und Bedingung verändernden Handelns ist – wird vertrieben; gleichzeitig sind alle Gelangweilt, in dieser ewigen Gegenwart.
Auch linke Bewegungen stecken drin fest.
Wie kommt man aus dieser Lage raus?
Vielleicht geht es darum, sich von jenem Gespenst der Welt, die frei sein könnte, Heimsuchen zu lassen um die Erinnerung des „Nicht mehr“ vergangener Sehnsüchte und die Möglichkeit eines „Noch nichts“ zu eröffnen – so schmerzhaft dies sein kann. Nur darüber kann das „Namenlose Begehren“ erweckt werden, das Emanzipation ihren unmäßigen Maßstab verleiht.
Eine Einführung darin ist die Einleitung zum geplanten und unvollendeten Buch „Acid Communism“, die wir im Workshop offen besprechen wollen.
 

Zu den Texten:

  1. Kapitalistischer Realismus

„Kapitalistischer Realismus bezeichnet den weitverbreiteten Glauben, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt.

Als Thatcher den Satz „Es gibt keine Alternative“ sagte, lag die Betonung auf der Präferenz: Der Neoliberale Kapitalismus ist das bestmögliche System; die alternativen sind unerwünscht. Inzwischen hat der Satz eine Art ontologisches Gewicht angenommen – Kapitalismus ist nicht nur das bestmögliche System, es ist das einzig mögliche; Alternativen sind dürftig, geisterhaft, kaum vorstellbar…Zumindest im globalen Norden präsentiert sich der Kapitalismus als die einzig mögliche Wirklichkeit und „erscheint“ darum fast gar nicht mehr als solcher.

(K-PUNK  372-373)

  1. Kollektive Depression

„Die Haltung des Realismus, die die vorherrschende Form des Kapitalismus erfordert, ist im Grunde depressiv. Die Verwaltung dieser kollektiven Depression soll verschieden Schwellen überschreiten. Zunächst sollen wir sehr wenig erwarten: Nichts wird jemals wieder passieren. Dann sollen wir glauben, dass die Dinge, die vielleicht einmal passiert sind, nicht so großartig waren. Und schließlich akzeptieren wir, dass nichts jemals passiert ist oder wieder passieren wird. Je mehr diese Depression normalisiert wird, umso schwerer ist es, sie wahrzunehmen. Radikal heruntergeschraubte Erwartungen werden zur Gewohnheit. Die Zeit wird flach.“

(K-PUNK)

„Es scheint nicht weit hergeholt, wenn man konstatiert, dass große Teile der Linken einer kollektiven klinischen Depression verfallen sind, mit Symptome wie Sich-Zurückziehen, fehlender Motivation oder Unfähigkeit zu handeln.

Ein Unterscheid zwischen Traurigkeit und Depression besteht darin, dass sich Traurigkeit als zufälliger, temporärer Zustand versteht, während Depression als notwendig und unendlich erscheint: Die gefrorenen Oberflächen der Welt des Depressiven erstrecken sich bis ans Ende des Horizonts. Versunken im depressiven Zustand, empfindet das Subjekt seine Melancholie nicht als pathologisch oder abnormal. Die Überzeugung, dass jedes Handeln sinnlos ist, dass unter dem Schein der Tugend einzig Bestechlichkeit schlummert, ist für den Leidenden eine Wahrheit, die er oder sie bereits begriffen hat, während andere noch zu verblendet sind, um sie wahrzunehmen. Es gibt auf jeden Fall eine Beziehung zum scheinbaren Realismus des Depressiven und seinen radikal herunter geschraubten Erwartungen und dem kapitalistischen Realismus“

(K-PUNK  375-376)

  1. Langeweile und Angst: Niemand ist gelangweilt, alles ist langweilig.

„Früher, in der Ära des Fordismus, war Langeweile der vorherrschende, reaktive Affekt. Repetitive Arbeit am Fließband produzierte Langeweile, die sowohl die wesentliche Form der Unterwerfung im Fordismus war wie auch die Quelle neuer oppositioneller Politik.

Man könnte behaupten, dass das Scheitern der traditionellen Linken mit der Unfähigkeit zusammenhängt. Sich mit dieser Politik der Langeweile […] angemessen auseinander zu setzen. [Was den Situationisten und den Punks gelang].

Es waren die Neoliberalen, die am besten die Kritik der Langeweile absorbiert und instrumentalisiert haben. Sie assoziierten die fordistischen Fabriken und die Stabilität und Sicherheit der Sozialdemokratie mit Eintönigkeit, Vorhersehbarkeit und Bürokratie von oben nach unten. Dem stellten die Neoliberalen Aufregung und Unberechenbarkeit gegenüber – aber die Kehrseite dieses neuen, dynamischen Verhältnisse ist die permanente Angst. Angst ist der emotionale Zustand, der mit (ökonomischen, gesellschaftlichen, existentiellen) Prekarität korreliert, die das neoliberale Regime normalisiert hat.

Und trotzdem war Langeweile immer Ambivalent; es war nicht einfach ein negatives Gefühl, das man loswerden wollte. Für Punk war die Leerstelle, die die Langeweile lässt, eine Herausforderung, eine Aufforderung und eine Möglichkeit: Wenn wir gelangweilt sind, dann ist es an uns, etwas zu produzieren, das die Leerstelle füllt.

Aber es ist genau diese Forderung zur Teilnahme, mit der der Kapitalismus die Langeweile neutralisiert hat. Statt ein befriedendes Spektakel zu installieren, setzen kapitalistsiche Unternehmen heute alles daran, uns zur Interaktion aufzufordern, unseren eigenen Content zu generieren und an der Diskussion teilzunehmen. Es gibt weder eine Entschuldigung noch eine Gelegenheit dafür, gelangweilt zu sein.

Die zeitgenössische Form des Kapitalismus hat zwar die Langeweile abgeschafft, nicht jedoch die Gelangweilten. Im Gegenteil – man könnte sagen, dass das Langweilige omnipräsent ist. Wir haben zum größten Teil die Erwartung aufgegeben, von Kultur überrascht zu werden…Nur ist niemand Gelangweilt – denn es gibt kein Subjekt mehr, das gelangweilt sein könnte. Denn Langeweile ist ein Zustand der Absorption – ein Zustand der höchsten Vertiefung. Langeweile nimmt unser ganzes Sein ein; wir haben das Gefühl, dass wir ihr nie entkommen. Aber es ist gerade diese Fähigkeit zur Vertiefung, die derzeit aufgrund der konstanten Zerstreuung, die für den kapitalistsichen Cyberspace zentral ist, unter Beschuss genommen wird. Wenn Langeweile eine Form der leeren Vertiefung ist, dann bilden positive Formen der Absorption das effektive Gegenmittel. Anstatt uns zu verschlingen, lenken sie uns von der Langeweile ab.

Das wohl eindrücklichste Merkmal unseres derzeitigen Zustandes ist die Mischung aus Langeweile und Zwang. Obwohl wir wissen, dass sie langweilig sind, fühlen wir uns trotzdem gezwungen, noch ein weiteres Facebook-Quiz zu machen […]. Wir bewegen uns ständig im Langweiligen, aber unser Nervensystem ist so überreizt, dass wir nie den Luxus haben, uns zu langweilen. Niemand ist gelangweilt, alles ist langweilig.“

(K-PUNK, 443-445)

  1. Hauntologie – Das allmähliche Aufkündigen der Zukunft

„Was nun Hauntology angeht, so geht der Terminus zurück auf Derridas Buch Marx Gespenster. „Spuken (Hater) heißt nicht gegenwärtig sein“ […] Alles existierende verdankt seine Möglichkeit  einer ganzen Reihe von absetzen, die ihm vorausgehen, es umgeben. Die Gestalt des Gespenstes ist daher insofern bedeutsam, als ein Gespenst nicht vollkommen präsent sein kann. Es hat kein sein an sich, sondern markiert die Beziehung zu einem Nicht-mehr oder Noch-Nicht.

Die großen Theoretiker der Moderne, Freud ebenso wie Marx, haben verschiedene Arten einer solchen Gespenstischen Kausalität entdeckt. Die spätkapitalistische Realität ist zweifellos eine Welt, in der Virtualitäten wirken und das vielleicht ominöseste Gespenst ist das Kapital selbst.“

(Gespenster meines Lebens, 29-30)

 

„Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht lassen sich vorläufig zwei Richtungen von Hauntology isolieren. Die erste bezieht sich auf ein aktuales Nicht-mehr, das jedoch als Virtualität bleibt: im traumatischen Widerholungszwang, als fatales Muster. Die zweite Richtung bezieht sich auf das in seiner Aktualität noch nicht geschehen, das virtuell indes immer schon wirksam ist: ein Attraktor oder Antizipation, die gegenwärtige Verhaltensweisen formt. Das von Marx in den ersten Zeilen des Kommunistischen Manifests beschworene „Gespenst des Kommunismus“ ist genau solch ein Spuk: Eine Virtualität, die durch ihr angedrohtes Kommen bereits dazu beiträgt, den gegenwärtigen Zustand zu untergraben.

Das Zeitalter des „kapitalistischen Realismus“ – geprägt durch die weithin geteilte Überzeugung – dass es zum Kapitalismus keine Alternative gebe – wird nicht Längere vom Gespenst heimgesucht, sondern von dessen Verschwinden“ (Gespenster meines Lebens, 31-32)

„In der Freud’schen Theorie geht es bei Trauer und Melancholie gleichermaßen um die Erfahrung von Verlust. Doch währen Trauer die langsame und schmerzhafte Ablösung libidinöser Energie vom verlorenen Objekt bezeichnet, bleibt bei der Melancholie die Libido an das verschwundene geknüpft. Damit die Trauer wirklich beginnen kann […] muss der Tote beschworen werden und „die Beschwörung sich versichern, dass der tote nicht wiederkehrt: Bloß schnell alles tun, damit die Leiche an sicherem Ort verwahrt beliebt“ (Derrida). Doch gibt es diejenige, die sich weigern, der Beisetzung zuzustimmen, und ebenso besteht die Gefahr eines Overkills, der den Tod zum Spuk werden lässt.“ (Gespenster meines Lebens, 35)

 

„Ist Hauntology, wie manche kritische Stimmen unterstellen, bloß ein anderer Name für Nostalgie?  Nostalgie nach was?

Was letztlich Nostalgie so unerträglich macht, ist die verbreitete Tendenz, die Vergangenheit zu überschätzen. Hauntology sehnt sich nicht nach einer bestimmten Zeit, sondern es geht dabei um das Wiederanknüpfen an Prozesse der Demokratisierung und Pluralisierung. Wir sollten uns vielleicht erinnern, dass der Sozialstaat nur im Rückblick als eine abgeschlossene Totalität erscheint; zu seiner Zeit hingegen war er ein Kompromiss, und die Linke sah in ihm bestenfalls einen provisorischen Brückenkopf für weitere Erfolge. Verfolgen sollte uns daher nicht das Nicht-mehr jenes einst realem existierenden Sozialstaats, sondern vielmehr das Noch-nicht einer materiell nie eingetretenen Zukunft, die zu erwarten die Popmoderne uns gleichwohl lehrte. Diese Gespenster, die Gespenster einer verlorenen Zukunft, spuken in der formalen Nostalgie der Welt des kapitalistischen Realismus. (Gespenster meines Lebens, 39-41)

  1. Das Gespenst einer Welt, die Frei sein könnte – K-PUNK 569-580
  2. Namenloses Begehren/ Ein neues Sehen – K-PUNK 596-597.