Spiegelung der Rede von NIKA NRW auf der Kundgebung „Solidarität mit Geflüchteten“ – 28.10.
0. Wir spüren es. Es ist ernst.
Die AfD hat in einigen Teilen dieses Landes 30% erreicht – man mag sich nicht ausmalen, was kommen wird. Faschisten neuen Typs waren bei den letzten Anläufen noch die Neuigkeit. Nun sind sie in einigen Orten der Welt bereits seit Jahren Regierungsmacht geworden – beim nächsten Anlauf sind sie Teil der Normalität. Noch schlimmer: Das, an dem sich alle anderen messen. Gleichzeitig überollen uns Asylverschärfungen (GEAS, Krisenverordnung, neue Abschieberegelungen), man kommt fast nicht mehr mit. Zugleich müssen wir feststellen, dass die Organisation im Widerstand gegen rassistische Verhältnisse schwächelt: Über einen Schiffbruch nach einem Pushback mit 700 Toten trauert man immer noch – die Reaktion ist aber schwach. Man hat es oft gesehen, was soll man noch tun? Vielleicht sind die Sinne nicht abgestumpft, aber was tun? Wer sich 2015 oder 2018 gesammelt hat, hat nun einige große Kämpfe ausgetragen – aber dreht man sich nicht im Kreis?
1. Und doch sind wir gefragt: Denn die Lage ist ernst.
Bei der AfD ist es schon immer klar. Hier ist Rassismus das ganze Programm. Das Angebot ist die Identifikation mit einem Kollektiv – „das Volk“ – das es nicht gibt, das nur in Abgrenzung und Abwertung von anderen zusammenfindet. Das Angebot ist die Entfesselung des Hasses selbst, der am stärksten auf migrantisierte und rassifizierte Menschen freigelassen wird. Andere Argumente sind dort ein Vorwand, um diesen Hass zu tragen. In diesem Hass findet das Volk zusammen. Dafür stehen gut 20 Prozent der Wähler*innen in Deutschland. Die dramatische Entwicklung ist im Rest der Parteilandschaft, des politischen Diskurses und der Gesellschaft, die sich darin ausdrückt, erkennbar. Die CDU ist nun in guten Teilen ganz auf AfD-Niveau gelandet. Jens Spahn, der schon Menschenrechte für obsolet erklärte, will jetzt „physische Gewalt“ gegen Geflüchtete anwenden. Merz schafft es, selbst den Kampf gegen Antisemitismus – gerade in diesen Wochen so dringlich, so wichtig – zu instrumentalisieren, um Abschiebungen zu preisen: Zum Hohn der Opfer der Hamas und derer, die durch die antisemitische Internationale bedroht sind. Die Münsteraner CDU tut ähnliches, um den Integrationsrat zu treffen. Hatten die Grünen noch „mit Bauchschmerzen“ die GEAS-Reform getragen, will die SPD jetzt „in großem Stil abschieben“ und man freut sich gemeinsam über die beschlossene „Krisenverordnung“, die es unter bestimmten Bedingungen ermöglicht, Migrant*innen zur Gefahr zu erklären, die es erlaubt, im Modus des Ausnahmezustands Menschenrechte und Rechtsstaat auszusetzen. Faeser begann ihr Amt mit einem Memorandum, das praktisch eine stärkere Selektion von Migrant*innen anhand wirtschaftlicher Nützlichkeit vorsah. Nun ist sie begeisterte Befürworterin der Abschottungsreformen und Abschiebepläne ohne rhetorische Umwege. Und hier sind wir am Punkt: Die gewalttätige Abschottung, die Entrechtung und Gefährdung von Menschen, die Brutalität der Deportationen werden von bürgerlich-Liberalen-Linksliberalen nicht mehr als ordinäre Verwaltung des „Migrationsmenagements“ nebenbei und vermeintlich wider Willen getan, und so weit wie möglich fern von den Augen gehalten. Sie sind nun programmatisch gewollt, man muss sich nicht mehr für die Brutalität erklären. Man muss nicht den neuen Faschisten halb versteckt zuzwinkern – man weiß, dass die eigene Basis nun mitmacht: Über Jahre wurde das Unerträgliche normalisiert. Vielleicht kann man sogar über diesen Zynismus nun stolz sein. Let`s be assholes! (1)
2. Warum passiert das?
Ja, einerseits heißt es: Schnell, schnell, bevor Europa 2024 wählt – und man meint immer noch, dass man die AfD dadurch schwächt, dass man sie nachmacht. Anderseits passiert was anderes. Das Ganze hat auch eine materielle Basis. Immer deutlicher bereiten sich die Staaten des globalen Nordes auf ein Szenario der um sich umhergreifenden globalen Krise vor. Der Kapitalismus, der im Norden auch Wohlstand gebracht hat, kann sich nur erhalten und die Krisen, an denen er zusammenbrechen könnte, überwinden, indem er noch stärker auf Ressourcen in einem (unter Anführungszeichen) „Außen“ zugreift: Noch billigere Arbeit, Raubbau an der Natur, Verschiebung auf andere Regionen der Konsequenzen und Kosten der Krise. Nur, irgendwann zieht sich zu sehr der Bogen weg – spätestens, wenn ganze Regionen politisch, ökonomisch und ökologisch unbewohnbar gemacht werden. Menschen machen sich auf den Weg dahin, wohin die Ressourcen, die ihrem Leben hätten dienen können, entführt wurden. Als akkumuliertes Kapital im globalen Norden findet man diese Ressourcen wieder als tatsächlich besseres Leben. Dann heißt es aber für die Arschloch-Gesellschaft bereit zu sein, die eigenen Interessen – koste es, was es wolle – zu verteidigen, in einem Stand verschärfter globaler Konkurrenz. Und es heißt: Den Zugang zu der eigenen Vormachtposition und zum eigenen Reichtum so stark es geht anderen zu verwehren. Es entsteht ein „Gated Capitalism“. Und hier kommen die neuen Faschisten wieder ins Spiel, mit einem Versprechen: Wenn es bald doch darum gehen soll, jede Humanität und Vernunft über Bord zu werfen, im Namen einer Rationalität des Ausnahmezustands, des „Kampfes aller gegen alle“, des „nach mir“ und genauer „ruhig neben mir“, „die Sintflut“ – dann sind sie das Original. Sie sind an nichts gebunden und werden die Arschlochnummer am konsequentesten durchziehen.
Neben den langwährenden Gründen – Kriege, Überausbeutung, die damit verbundene politische Instabilität, die sie gerne begleitende Macht von Banden oder extremistisch religiöser Gruppierungen – ist der Klimawandel schon jetzt und immer mehr einer der zentralen Gründe, die zur Flucht zwingen. Klimawandel bedeutet Dürre, extreme Wetterphänomene, allgemein die Zerstörung der Abläufe, über die sich das Leben reproduziert. In einigen Regionen ereignen sich schon jetzt jene Szenarien, die in den düstereren Visionen der Folgen des Klimawandels für die Zukunft vorgesehen sind. Zum Klimawandel tragen bekanntlich am meisten die wirtschaftlich stärkeren Staaten bei, die direkt bei sich oder indirekt anderswo für die höchsten CO2-Ausstöße verantwortlich sind. Aber auch die „grüne Wende“ wird auf Kosten anderer Regionen ausgetragen. Die Materialien, die dafür nötig sind (etwa sogenannte „seltene Erden“), werden in den global zur Peripherie gemachten Regionen abgebaut. Dafür werden nicht nur ganze Landschaften verwüstet und unbewohnbar gemacht. In vielen Fällen entstehen Kämpfe für diese Ressourcen und nicht selten kommen Milizen und kriminelle Banden ins Spiel, die ganze Regionen in Schrecken versetzen oder sich darum kümmern, dass Menschen sich unter sklavenähnlichen Bedingungen im Abbau betätigen. Wiederum können sich die Regionen des globalen Nordens stärker vor den Konsequenzen des Klimawandels schützen. Man wird Dämme errichten und die neuentstandenen Wüsten bewässern. Im Notfall wird man schwimmende Städte oder Oasen-Städte bauen. Wer nicht die ökonomischen Mittel hat, Technologien so anzuwenden, ist dann echt am Arsch. Es bleibt dann nur die Möglichkeit der Flucht.
3. Zoom out, zoom in auf diese Seite der Festung.
Die Zerwürfnisse, die Kapitalismus in einer Gesellschaft hervorbringt, wurden in den Jahrzehnten nach dem Krieg beschwichtigt und integriert, durch einen Klassenkompromiss auf nationaler Ebene. Ein Teil des hier akkumulierten Reichtums diente zur Verbesserung der Lebenslage der Menschen, durch deren Ausbeutung Kapitalvermehrung geht. Gleichzeitig machte man damit die Bevölkerung des Nordens zu globalen Über-Konsument*innen. Ihr Lebensstandard, ihre Lebensweise sollte Waren verbrauchen (oft genug unnötige), um die Kapitalverwertung in Gang zu halten: Ein neues Auto alle 7 Jahre, Billigfleisch, erschwingliche Technologieprodukte. Dass das möglich wurde, hatte auch viel damit zu tun, dass einerseits massiv billige fossile Ressourcen verbraucht wurden (die Eltern des Klimawandels), anderseits viel direkte Aneignung von Ressourcen und Arbeitskraft („Extraktivismus“) aus dem globalen Süden stattfand. Die Nationalstaaten des globalen Nordens organisierten diesen „nationalen Wohlstand“ und legitimierten sich vor ihrer Bevölkerung dadurch. Vor vielfache Krisenphänomene gestellt, scheint dieser Wohlstand gefährdet. Es verbreitet sich das Gefühl, Privilegien zu verlieren – die gleichzeitig für viele ein kleiner Trost sind in einem Alltag von Fremdbestimmung und Unsicherheiten. Und es wird klar, dass diese Art zu Leben (Achtung, nicht zwingend ein komfortables Leben überhaupt, sondern diese Form von Wohlstand) eben davon lebt, dass andere Menschen davon ausgeschlossen sind und in der globalen Arbeitsteilung eine andere Position einnehmen. Wobei auch klar sein muss: Durch Abschottung wird die weitere Ausbeutung der Peripherien des Kapitalismus gesichert, auf die ein Teil der Kompensation der internen Zerwürfnisse im Globalen Norden beruht. Die Erzählung aber, dass hier der Kuchen zu klein ist und „nicht alle zu uns“ kommen können, weil sonst eine Konkurrenz entsteht, ist bullshit. Der Arbeitsmarkt ist hier bereits rassistisch geschichtet – Die Arbeiten im Niedriglohnsektor machen eben jene, die durch den Druck von Aufenthaltsrecht oder Job Center dazu gezwungen werden. Worum es geht, ist eine nationale Vormachtstellung im Zugriff auf diese Welt zu bewahren, und jene fernzuhalten, die die Konsequenzen dafür tragen. Der kapitalistische Nationalstaat bedeutet immer schon eine Aufteilung der Menschheit: Und zwar potentiell gegeneinander. Diese Welt konkurrierender, kapitalistischer Nationalstaaten ist ein infames Unding. Sie rechnet immer mit Ausschluss und Mord, sie macht Menschen überflüssig, verzichtbar. Menschenrechte werden damit einem per se menschenverachtenden Monster anvertraut.
4. Die nächsten Monate brauchen uns.
Sie brauchen unsere Intelligenz, um das Unmenschliche laut zu benennen und zu zeigen, woher es kommt. Sie brauchen unsere Organisation: wir haben viel zu tun: Abschiebungen verhindern, Gesetzesvorhaben und Umsetzungen in die Quere kommen, Diskursverschiebungen umkehren – und gegen eine brutale Mentalität, gegen die Arschlochwerdung der Gesellschaft handeln. Sie brauchen uns – und wir dürfen uns nicht uns von der gefühlten Ohnmacht und der Übermacht der Verhältnisse in die Verzweiflung oder in den Wahnsinn treiben lassen. Ja, es ist diese ganze Un-Ordnung, die weg muss. Die Forderungen nach Bewegungsfreiheit, nach Bleiberecht – und auch bereits nach humanitärem Schutz! – sind revolutionär. Nimmt man sie ernst, führen sie auf den Weg einer radikalen Gesellschaftveränderung. Lasst uns diese selbst in die Hand nehmen.Lasst uns beraten, lasst uns wieder in Bewegung kommen. Gegen die Barbarei, wie auch immer sie auftritt.
(1) Während wir diese Zeilen schrieben, äußerte sich ganz ähnlich ein langjähriger Aktivist öffentlich und sprach vom Übergang von der Verdrängungsgesellschaft zur Arschlochgesellschaft: „Die Eopche der Menschheitsgeschichte, in der […] das nationalegoistische, patriarchale Arschloch den neoliberalen Soziopathen als dominantes Subjekt ablöst: die nenne ich das Arschlochozän – the age ofassholes“. (Tadzio Müller)