Letzte Woche jährte sich der Sturm aufs Capitol. Auch wenn dieser ohne weitere Konsequenzen blieb, ist er symptomatisch für die Funktionsweise gegenwärtiger rechter Mobilisierung – wie sie auch auf den Corona-Demos zu beobachten ist.
Insbesondere lohnt es sich, den Blick auf die Mobilisierten zu wenden: Diese treten weniger unmittelbar nationalistisch oder völkisch auf, als in der Gestalt gekränkter Bürger*innen, die meinen, ihre Freiheit und ihre Rechte zu verteidigen. Doch der gekränkte libertäre Patriot hat ähnliche Sehnsüchte und Triebstruktur wie der sich zum ewigen Opfer erklärende Volksdeutsche und strebt eine ähnliche Krisenbewältigung an: Jene, die eine regressive Triebentfesselung zulässt, Bandenbildung gewährleistet und diese gleichzeitig in der Mobilisierung selbst, im Anführer, im Kampf gegen einen absoluten Feind zusammenhält.
Es folgen sechs Anmerkungen, die eine gewisse Übertragbarkeit auf andere Zusammenhänge zulassen – nicht zuletzt auf die Corona-Demos:
1.
Die Szene des Sturms aufs Capitol ist emblematisch: „Das Volk“, „die Patrioten“ schritten gegen die bürgerlich-demokratischen Institutionen und explizit gegen das demokratische Prinzip vor. Das Wahlergebnis sollte nicht zählen. Weil sie eben die Patrioten sind, ist auch das, was sie sich wünschen, das, was für die Nation gut ist und deshalb auch an die Macht soll. Eine Angreiferin sagte: „Wenn wir Trump verlieren, verlieren wir unser Land“. Es ist eine faschistoide Logik: etwas Ursprünglicheres wird beschworen (Volkswille, Volk/Land, „Rasse“), das sich jenseits der demokratischen Vermittlungen durchsetzen und sich ihrer vermeintlichen Schwäche entledigen soll. Ein Teil dieser Logik ist der politische Dezisionismus: Es soll das gelten, was die Kraft hat, sich zu behaupten, was Tatsachen schafft.
2.
Der Sturm des Capitols wurde dabei seit Monaten angekündigt und noch am selben Tag von Trump befeuert. Nix mit „unerwartet“. Die Gefahr wurde kaum ernst genommen. Wie üblich. Trump hatte das alles bewusst in Gang gebracht, wie es sich für den „faschistischen Agitator“ auch gehört: andeuten, aufhetzen, machen lassen. Er hatte immer mit Rechtsextremen, White-suprematistischen und Nazi-Gruppen geliebäugelt und in ihre Richtung gepfiffen – „very special people“. Er hatte Verschwörungserzählungen gedeihen lassen und gefördert. Er hatte dazu beigetragen, dass sich ein starker Teil der republikanischen Wähler*innenschaft in Wahn und Paranoia hochschaukelte (45% der republikanischen Wähler*innen befürworteten den Angriff auf das Capitol). Die republikanische Partei hat das geschehen lassen (trotz interner Opposition). Was der faschistische Agitator dabei anbietet, ist vor allem die Mobilisierung selbst und die damit verbundene Herstellung einer Gemeinschaft der Mobilisierten um sich herum. In der Gefolgschaft/Mobilisierung gewinnt man eine Zugehörigkeit, imaginiert die Anerkennung des Oberhauptes, hat Teil an dem Versprechen besonderer Privilegien (die gegen ausgeschlossene und gegen die, die als Feinde markiert sind, gesichert werden), fühlt sich als Teil einer epochalen Mission, darf sich mit der Macht des Anführers identifizieren. Und: Man bekommt einen Freischein zur Entfesselung der zerstörerischen Triebe. Der Fluchtpunkt dieser Dynamik ist die Umformung der gesamten Gesellschaft zur rasenden Maschine, in der die Mobilisierung stattfindet, und der Mobilisierte als Patriot oder Volksgenosse existiert.
3.
Interessant ist dabei, dass der rechte Mob in den USA weniger ein Volkskollektiv beschwört als eine radikal-libertäre Auffassung des gesellschaftlichen Zusammenhangs; das gilt auch für einen guten Teil der Querdenker und sogar der neuen Rechten. Doch der Unterschied ist nicht so groß, wie man denken könnte.
Zum einen ist der Ausgangspunkt derselbe: der Umgang mit der in bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung stets erzeugten und verdrängten Prekarität der „Souveränität“ der Einzelnen (man ist nie gänzlich Subjekt der eigenen Geschichte und von Gesellschaft) – und mit der Enttäuschung darüber, dass der staatliche Souverän doch nicht ganz so souverän ist und dem kapitalen prozessierenden Widerspruch untersteht, dessen Unbarmherzigkeit sich in den Schwankungen des Weltmarktes und in dessen Krisen zeigt.
Zum anderen ist die Lösung eine ähnliche. Die bürgerlichen Vermittlungen – die trotz ihrer Widersprüchlichkeit die Einzelnen als teil-autonome Zentren (Neumann) behandeln und ihre Beziehungen unter der Allgemeinheit des bürgerlichen Rechtes synthetisieren – werden ausgehöhlt.
Die Subjekte regredieren hinter ihrer bürgerlichen Form. Sie lassen eine unkontrollierte Triebentfesselung zu, die auch als Reaktion auf den übermäßigen Triebverzicht des bürgerlichen Alltags zu verstehen ist. Die Vergesellschaftung funktioniert nicht mehr über die bürgerlichen Vermittlungen, sondern durch Bandenbildung: In der Bande, mit der der Entfesselt-Regredierte frei sein will, sich identifizieren zu können, findet er sich wieder; mit der Bande will er seine unmittelbaren Interessen verfolgen. Die prekäre individuelle Souveränität wird preisgegeben und in der Bande wiedergewonnen: Das ist der Sinn ihres Rufes nach „Freiheit“.
Beim Völkisch-Mobilisierten wird die Konkurrenz unter Banden im Volkskollektiv – selbst als Bande formiert – integriert: dieser soll zum absoluten Souverän und Krisenbewältiger werden und die Kränkung heilen. Der libertäre Patriot – der gegen zentrale/föderale Institutionen und gegen die formalen demokratischen Verkehrsformen ist – will, dass zu allen Mitteln gegriffen wird (und dass er zu allen Mitteln greifen darf), um seine tatsächlichen Privilegien zu verteidigen und zu stärken. Statt der bürgerlichen Vermittlung will er eine Macht, die sein Interesse, seine Kränkung, sein Bedürfnis legitimiert und mit der er sich selbst identifizieren kann, in einer symbolischen Befriedigung seines Narzissmus.
All das ist aber Teil der bürgerlichen Zivilisation innewohnenden Möglichkeit des offenen Übergangs ins Absurde.
4.
Dabei ist ein zentraler Teil der ersehnten „Freiheit“ die, die daraus folgt, sich ungehemmt fremdes Leben – wenn auch indirekt – aneignen zu können und sich gegen fremdes Leben austoben zu dürfen: rassistisch, patriarchal, umweltzerstörend; unsolidarisch in der Pandemie. Sie sieht dieses Privileg gefährdet. Und deshalb wirkt sie gegen alles, was eine egalitärere Teilhabe im Rahmen der gegebenen Bedingungen versucht durchzusetzen und die Praxen, durch die sich privilegierte Stellungen in der Gesellschaft reproduzieren, anfechtet. Das Ganze hat Tradition: Seit langem ist nicht nur in den USA die Parole der „Freiheit“ mit dem Kampf um das Recht, in Worten und Taten diskriminieren zu dürfen, ohne genervt zu werden, verbunden.
Die andere Seite davon ist die permanente Paranoia, von obskuren Mächten kleingemacht zu werden, die unweigerlich im Antisemitismus ihren Fluchtpunkt hat. Kein Zufall, dass Angreifer auf das Capitol T-Shirts, die die Shoah feierten, trugen. Trump bespielt ohnehin ein Publikum, das tief in antisemitischen Verschwörungserzählungen steckt: „großer Austausch“, „Kulturmarxismus“, Hass gegen die „Elite der East Coast“.
5.
Vor dieser Grundlage kamen zusammen und vermischten sich im Sturm auf den Capitol Durchschnittsrepublikaner*innen, Alt-Right-Faschistinn*en, Nazis, QAnon-Anhänger*innen. Auf den Corona-Demos kommen zusammen und vermischen sich explizite Nazis und AfD-Wähler*innen, nach Einheit mit dem Ursprung und ihrer Mitte sich sehnenden Esos und Yogakreise, vor allem aber gekränkte Bürger*innen, die die Grundkränkung durch den Normalbetrieb bürgerlicher Vergesellschaftung nicht erkennen können und sie erst im Zusammenhang mit der Pandemie falsch angehen (dazu gehören auch allerlei begriffslose Linke).
Die Verteidigung der Privilegien und die Angst vor dem Untergang der Ordnung, die sie irgendwie privilegiert, vereint sie. Zunehmend in einer Variante, die behauptet, die Krise sei schon eingebrochen, die ersehnte und vermisste Ordnung sei neu hervorzubringen oder man habe sich der alten Formen der Politik zu entledigen, um die Katastrophe zu meistern. Deshalb mündet all das in eine Tag-X Phantasie und eben in der Bereitschaft zur radikalen Mobilisierung.
6.
Es handelt sich nicht um ein Randphänomen. Es ist etwas, was „aus der Mitte“ hervorwächst. Es ist das Ausbrechen einer in ihr angelegten Dynamik.
Faschismus kam dann an die Macht, wenn er in der Lage war, Menschen zu mobilisieren und sich als Ausdruck des „Volkswillen“ darzustellen. Und: wenn die „Mitte“ vor ihm kapitulierte oder gar mit ihm paktierte. Gegenwärtig muss man feststellen, dass die neuen Faschist*innen eine neue Mobilisierungsfähigkeit und neue Wege der Mobilisierung gefunden haben, die sich nicht immer explizit als faschistisch kennzeichnen oder gar begreifen (auch wenn bekennende Faschist*innen nie fern sind). Rausch und Mobilisierung, Triebentfesselung, Verteilung von Privilegien gemäß einer Logik der Bande ist aber seit jeher ihr Kerngeschäft. Auf diese Mobilisierung sowie auf das Versprechen, Teil der Bande sein zu dürfen, werden sie weiterhin setzen.