Rede gegen den AfD-Neujahrsempfang vom 16.02.24

Ein weiteres Jahr, ein weiterer AfD-Neujahrsempfang. Man könnte fast meinen, es bleibt alles beim Alten und alles Politische geht wie gewohnt seinen Gang. Doch der braune Haufen Dreck, der sich heute hier im Rathaus trifft, stinkt dieses Jahr noch gewaltiger als die Jahre zuvor: Die Correctiv-Recherche hat nun hoffentlich auch den Letzten klar gemacht, gegen wen wir hier heute protestieren: Waschechte Faschist*innen mit menschenverachtenden und deutschtümelden Gelüsten.

Viele schienen über das, was von der Correctiv-Recherche veröffentlicht wurde, überrascht und erbost. Doch die Überraschung verwundert ein wenig, so hat die Faschistin Alice Weidel es doch kürzlich erst mit eigenen Worten gesagt: Pläne zur massenhaften Abschiebbungen von allem „Undeutschen“ würden nicht im Geheimen, sondern auf ihren Parteitagen beschlossen. Und sie hat Recht! Ich erinnere mich noch gut an 2017, als die AfD ihre Parteitage in Hannover und Köln abgehalten hat. Die Gegenproteste waren groß, auch wenn die Polizei mit aller Gewalt gegen den Protest vorgegangen ist. Denn schon damals war uns klar, was die AfD ist und was diese Partei vorhat, weil sie es in alle Öffentlichkeit hinausposaunt! Sie ist eine rassistische, faschistoide Partei, deren Ziele sie seit spätestens 2015 klar benennt. Immer im Fokus war dabei die Entrechtung und Abschiebung geflüchteter Menschen und all derer, die nicht in ihr rassistisches, völkisches Bild passen.

Doch der Rechtsruck und die damit einhergehenden Abschiebe- und Deportationsphantasien sind kein Phänomen, das sich allein in der AfD und dem Treffen von Potsdam offenbart: er ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, und als solches muss man es verstehen, wenn man dem Rassismus noch etwas entgegensetzen will.Denn obwohl engagierte Antifaschist*innen seit Jahren vor exakt solchen Zuständen warnen und gewarnt haben, hatte man der AfD und anderen Rechtsradikalen scheinbar nichts entgegen zu setzen als billigste Appeasment-Politik: Im Osten Deutschlands ist es seit Jahren, besonders seitens der CDU, völlig normal, Anträgen der AfD in Stadträten oder Kreistagen zuzustimmen. Dass diese Anbändelei nicht skandalisiert wird, ist an sich schon ein Skandal!

Wenn ein angeblich sozialdemokratischer Bundeskanzler „in großem Stil abschieben“ will und die eigentlich so weltoffenen Grünen dabei höchstens „Bauchschmerzen“ haben und trotzdem als Regierungspartei lustig weiter in Kriegs- und Krisensgebiete wie den Iran und den Irak abschieben, dann ist auch das ein Phänomen des Rechtsruck. Und damit will ich keinesfalls sagen, dass diese Parteien genau so seien wie die AfD. Es handelt sich immer noch um bürgerlich-demokratische Partein. Aber wir müssen uns dennoch darüber im Klaren sein, dass mit der AfD als Triebfeder auch die sogenannte „bürgerliche Mitte“ immer anfälliger für rassistische und volkstümelnde Politik wird. Denn sie bekämpfen nicht die Rassisten, sie beschwichtigen sie nur! Und so wurde Europa zur Festung ausgebaut, Abertausende elendig ertrunkene Geflüchtete liegen auf dem Boden des Mittelmeers, das Recht auf Asyl wurde quasi abgeschafft und selbst das letzte aufgeweichte Gesetz scheint nicht mehr zu gelten, wenn Frontex illegale Pushbacks durchführt.

Bei der ganzen Scheiße, die momentan in Deutschland und Europa so vor sich geht, ist es ermutigend, dass allein in Münster Zehntausende Menschen die Innenstadt aus allen Nähten platzen lassen und ein Zeichen gegen Rechtsextremismus setzen. Es ist zu hoffen, dass diese Botschaft besonders bei all denjenigen ankommt, die momentan Angst um ihre Existenz haben müssen und am meisten unter dem Rechtsruck leiden.

Doch der Protest darf kein Ritual fürs gute Gewissen werden. Unser aller Antifaschismus darf sich nicht auf ein paar Demos beschränken, wo man sich hinterher auf die Schultern klopft und dann weiter macht wie vorher. Er muss nachhaltig werden und insbesondere nachhaltig bleiben. Und der Protest darf nie vergessen, gegen was er sich richtet: Wenn wir völlig berechtigt „Nazis raus“ fordern, dann müssen wir dabei immer daran denken, dass wir in dem Täterland demonstrieren, welches das Naziregime hervorgebracht hat. Wenn Deutsche „Nazis raus!“ rufen, dann erklären Sie auch immer diese Gesellschaft, diesen Staat, Deutschland selbst zu etwas Gutem, etwas schützenswertem, das angeblich nichts mit Nazis & ihresgleichen gemeinsam hat.Somit kann es keine Versöhnung mit der Vergangenheit, keine Wiedergutwerdung der Deutschen geben! Spucken wir unseren toten Nazigroßeltern auf’s Grab, statt ihre Täterschaft zu verschweigen! 

Wenn es uns ernst ist mit einem nachhaltigen Kampf gegen AfD und Rechtsruck, heißt das: Faschisten müssen mit allen uns möglichen  Mitteln bekämpft werden. Ob in der Nachbarschaft, im Betrieb, der Schule oder auf dem Elternabend, und auch im ach so toleranten und weltoffenen Münster: Wir dürfen nirgends zulassen, dass rechte Spinner ihre menschenverachtende Scheiße von sich geben können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen! Dass die Identitäten dieser Menschenfeinde öffentlich gemacht werden, darf nicht mehr nur die Arbeit radikaler Antifa-Recherchegruppen sein, sondern gesellschaftlicher Konsens werden. Zu diesen Mitteln gehört aber auch, dass wir uns gegen die Repressalien wehren, mit denen versucht wird, Antifaschist*innen mundtot und handlungsunfähig zu machen: Sei es die inhaftierte Antifaschistin Lina E., oder jene, die gegen den Tag der Ehre in Ungarn protestierten und jetzt dort im Knast sitzen. Außerdem: Solidarität mit den mutigen Menschen in der ostdeutschen Provinz,die sich dort gegen den Versuch der Faschos wehren, dort eine rechte Hegemonie aufzubauen.Und verdammt noch mal: Schluss mit der rassistischen Abschiebe- und Migrationspolitik!

Lasst es uns der AfD zudem gar nicht erst mehr möglich machen, ihre Deportationswünsche zu planen. Indem wir sie zum Beispiel Ende Juni ihren Bundesparteitag in Essen massenhaft blockieren! Das ist nicht allzu weit entfernt von hier, also hin da!

Denn am Ende heißt es Klipp und Klar: Nieder mit dem Rechtsruck dieser Gesellschaft! Nieder mit den verfluchten Faschist*innen von der AfD! Zur Hölle mit diesen schäbigen Rassisten!

Gegen die definitive Arschlochgesellschaft

Spiegelung der Rede von NIKA NRW auf der Kundgebung „Solidarität mit Geflüchteten“ – 28.10.

0. Wir spüren es. Es ist ernst.
Die AfD hat in einigen Teilen dieses Landes 30% erreicht – man mag sich nicht ausmalen, was kommen wird. Faschisten neuen Typs waren bei den letzten Anläufen noch die Neuigkeit. Nun sind sie in einigen Orten der Welt bereits seit Jahren Regierungsmacht geworden – beim nächsten Anlauf sind sie Teil der Normalität. Noch schlimmer: Das, an dem sich alle anderen messen. Gleichzeitig überollen uns Asylverschärfungen (GEAS, Krisenverordnung, neue Abschieberegelungen), man kommt fast nicht mehr mit. Zugleich müssen wir feststellen, dass die Organisation im Widerstand gegen rassistische Verhältnisse schwächelt: Über einen Schiffbruch nach einem Pushback mit 700 Toten trauert man immer noch – die Reaktion ist aber schwach. Man hat es oft gesehen, was soll man noch tun? Vielleicht sind die Sinne nicht abgestumpft, aber was tun? Wer sich 2015 oder 2018 gesammelt hat, hat nun einige große Kämpfe ausgetragen – aber dreht man sich nicht im Kreis?

1. Und doch sind wir gefragt: Denn die Lage ist ernst.  
Bei der AfD ist es schon immer klar. Hier ist Rassismus das ganze Programm. Das Angebot ist die Identifikation mit einem Kollektiv – „das Volk“ – das es nicht gibt, das nur in Abgrenzung und Abwertung von anderen zusammenfindet. Das Angebot ist die Entfesselung des Hasses selbst, der am stärksten auf migrantisierte und rassifizierte Menschen freigelassen wird. Andere Argumente sind dort ein Vorwand, um diesen Hass zu tragen. In diesem Hass findet das Volk zusammen. Dafür stehen gut 20 Prozent der Wähler*innen in Deutschland.  Die dramatische Entwicklung ist im Rest der Parteilandschaft, des politischen Diskurses und der Gesellschaft, die sich darin ausdrückt, erkennbar.  Die CDU ist nun in guten Teilen ganz auf AfD-Niveau gelandet. Jens Spahn, der schon Menschenrechte für obsolet erklärte, will jetzt „physische Gewalt“ gegen Geflüchtete anwenden. Merz schafft es, selbst den Kampf gegen Antisemitismus – gerade in diesen Wochen so dringlich, so wichtig – zu instrumentalisieren, um Abschiebungen zu preisen: Zum Hohn der Opfer der Hamas und derer, die durch die antisemitische Internationale bedroht sind. Die Münsteraner CDU tut ähnliches, um den Integrationsrat zu treffen.  Hatten die Grünen noch „mit Bauchschmerzen“ die GEAS-Reform getragen, will die SPD jetzt „in großem Stil abschieben“ und man freut sich gemeinsam über die beschlossene „Krisenverordnung“, die es unter bestimmten Bedingungen ermöglicht, Migrant*innen zur Gefahr zu erklären, die es erlaubt, im Modus des Ausnahmezustands Menschenrechte und Rechtsstaat auszusetzen. Faeser begann ihr Amt mit einem Memorandum, das praktisch eine stärkere Selektion von Migrant*innen anhand wirtschaftlicher Nützlichkeit vorsah. Nun ist sie begeisterte Befürworterin der Abschottungsreformen und Abschiebepläne ohne rhetorische Umwege.  Und hier sind wir am Punkt: Die gewalttätige Abschottung, die Entrechtung und Gefährdung von Menschen, die Brutalität der Deportationen werden von bürgerlich-Liberalen-Linksliberalen nicht mehr als ordinäre Verwaltung des „Migrationsmenagements“ nebenbei und vermeintlich wider Willen getan, und so weit wie möglich fern von den Augen gehalten.  Sie sind nun programmatisch gewollt, man muss sich nicht mehr für die Brutalität erklären. Man muss nicht den neuen Faschisten halb versteckt zuzwinkern – man weiß, dass die eigene Basis nun mitmacht: Über Jahre wurde das Unerträgliche normalisiert. Vielleicht kann man sogar über diesen Zynismus nun stolz sein. Let`s be assholes! (1)

2. Warum passiert das?
Ja, einerseits heißt es: Schnell, schnell, bevor Europa 2024 wählt – und man meint immer noch, dass man die AfD dadurch schwächt, dass man sie nachmacht. Anderseits passiert was anderes. Das Ganze hat auch eine materielle Basis. Immer deutlicher bereiten sich die Staaten des globalen Nordes auf ein Szenario der um sich umhergreifenden globalen Krise vor. Der Kapitalismus, der im Norden auch Wohlstand gebracht hat, kann sich nur erhalten und die Krisen, an denen er zusammenbrechen könnte, überwinden, indem er noch stärker auf Ressourcen in einem (unter Anführungszeichen) „Außen“ zugreift: Noch billigere Arbeit, Raubbau an der Natur, Verschiebung auf andere Regionen der Konsequenzen und Kosten der Krise. Nur, irgendwann zieht sich zu sehr der Bogen weg – spätestens, wenn ganze Regionen politisch, ökonomisch und ökologisch unbewohnbar gemacht werden. Menschen machen sich auf den Weg dahin, wohin die Ressourcen, die ihrem Leben hätten dienen können, entführt wurden. Als akkumuliertes Kapital im globalen Norden findet man diese Ressourcen wieder als tatsächlich besseres Leben. Dann heißt es aber für die Arschloch-Gesellschaft bereit zu sein, die eigenen Interessen – koste es, was es wolle – zu verteidigen, in einem Stand verschärfter globaler Konkurrenz. Und es heißt: Den Zugang zu der eigenen Vormachtposition und zum eigenen Reichtum so stark es geht anderen zu verwehren.  Es entsteht ein „Gated Capitalism“. Und hier kommen die neuen Faschisten wieder ins Spiel, mit einem Versprechen: Wenn es bald doch darum gehen soll, jede Humanität und Vernunft über Bord zu werfen, im Namen einer Rationalität des Ausnahmezustands, des „Kampfes aller gegen alle“, des „nach mir“ und genauer „ruhig neben mir“, „die Sintflut“ – dann sind sie das Original. Sie sind an nichts gebunden und werden die Arschlochnummer am konsequentesten durchziehen.   
Neben den langwährenden Gründen – Kriege, Überausbeutung, die damit verbundene politische Instabilität, die sie gerne begleitende Macht von Banden oder extremistisch religiöser Gruppierungen – ist der Klimawandel schon jetzt und immer mehr einer der zentralen Gründe, die zur Flucht zwingen. Klimawandel bedeutet Dürre, extreme Wetterphänomene, allgemein die Zerstörung der Abläufe, über die sich das Leben reproduziert. In einigen Regionen ereignen sich schon jetzt jene Szenarien, die in den düstereren Visionen der Folgen des Klimawandels für die Zukunft vorgesehen sind.  Zum Klimawandel tragen bekanntlich am meisten die wirtschaftlich stärkeren Staaten bei, die direkt bei sich oder indirekt anderswo für die höchsten CO2-Ausstöße verantwortlich sind. Aber auch die „grüne Wende“ wird auf Kosten anderer Regionen ausgetragen. Die Materialien, die dafür nötig sind (etwa sogenannte „seltene Erden“), werden in den global zur Peripherie gemachten Regionen abgebaut. Dafür werden nicht nur ganze Landschaften verwüstet und unbewohnbar gemacht. In vielen Fällen entstehen Kämpfe für diese Ressourcen und nicht selten kommen Milizen und kriminelle Banden ins Spiel, die ganze Regionen in Schrecken versetzen oder sich darum kümmern, dass Menschen sich unter sklavenähnlichen Bedingungen im Abbau betätigen.  Wiederum können sich die Regionen des globalen Nordens stärker vor den Konsequenzen des Klimawandels schützen. Man wird Dämme errichten und die neuentstandenen Wüsten bewässern. Im Notfall wird man schwimmende Städte oder Oasen-Städte bauen. Wer nicht die ökonomischen Mittel hat, Technologien so anzuwenden, ist dann echt am Arsch. Es bleibt dann nur die Möglichkeit der Flucht.  

3. Zoom out, zoom in auf diese Seite der Festung.
Die Zerwürfnisse, die Kapitalismus in einer Gesellschaft hervorbringt, wurden in den Jahrzehnten nach dem Krieg beschwichtigt und integriert, durch einen Klassenkompromiss auf nationaler Ebene. Ein Teil des hier akkumulierten Reichtums diente zur Verbesserung der Lebenslage der Menschen, durch deren Ausbeutung Kapitalvermehrung geht. Gleichzeitig machte man damit die Bevölkerung des Nordens zu globalen Über-Konsument*innen. Ihr Lebensstandard, ihre Lebensweise sollte Waren verbrauchen (oft genug unnötige), um die Kapitalverwertung in Gang zu halten: Ein neues Auto alle 7 Jahre, Billigfleisch, erschwingliche Technologieprodukte. Dass das möglich wurde, hatte auch viel damit zu tun, dass einerseits massiv billige fossile Ressourcen verbraucht wurden (die Eltern des Klimawandels), anderseits viel direkte Aneignung von Ressourcen und Arbeitskraft („Extraktivismus“) aus dem globalen Süden stattfand. Die Nationalstaaten des globalen Nordens organisierten diesen „nationalen Wohlstand“ und legitimierten sich vor ihrer Bevölkerung dadurch. Vor vielfache Krisenphänomene gestellt, scheint dieser Wohlstand gefährdet. Es verbreitet sich das Gefühl, Privilegien zu verlieren – die gleichzeitig für viele ein kleiner Trost sind in einem Alltag von Fremdbestimmung und Unsicherheiten. Und es wird klar, dass diese Art zu Leben (Achtung, nicht zwingend ein komfortables Leben überhaupt, sondern diese Form von Wohlstand) eben davon lebt, dass andere Menschen davon ausgeschlossen sind und in der globalen Arbeitsteilung eine andere Position einnehmen. Wobei auch klar sein muss: Durch Abschottung wird die weitere Ausbeutung der Peripherien des Kapitalismus gesichert, auf die ein Teil der Kompensation der internen Zerwürfnisse im Globalen Norden beruht. Die Erzählung aber, dass hier der Kuchen zu klein ist und „nicht alle zu uns“ kommen können, weil sonst eine Konkurrenz entsteht, ist bullshit. Der Arbeitsmarkt ist hier bereits rassistisch geschichtet – Die Arbeiten im Niedriglohnsektor machen eben jene, die durch den Druck von Aufenthaltsrecht oder Job Center dazu gezwungen werden. Worum es geht, ist eine nationale Vormachtstellung im Zugriff auf diese Welt zu bewahren, und jene fernzuhalten, die die Konsequenzen dafür tragen. Der kapitalistische Nationalstaat bedeutet immer schon eine Aufteilung der Menschheit: Und zwar potentiell gegeneinander. Diese Welt konkurrierender, kapitalistischer Nationalstaaten ist ein infames Unding. Sie rechnet immer mit Ausschluss und Mord, sie macht Menschen überflüssig, verzichtbar. Menschenrechte werden damit einem per se menschenverachtenden Monster anvertraut.  

4. Die nächsten Monate brauchen uns.
Sie brauchen unsere Intelligenz, um das Unmenschliche laut zu benennen und zu zeigen, woher es kommt. Sie brauchen unsere Organisation: wir haben viel zu tun: Abschiebungen verhindern, Gesetzesvorhaben und Umsetzungen in die Quere kommen, Diskursverschiebungen umkehren – und gegen eine brutale Mentalität, gegen die Arschlochwerdung der Gesellschaft handeln. Sie brauchen uns – und wir dürfen uns nicht uns von der gefühlten Ohnmacht und der Übermacht der Verhältnisse in die Verzweiflung oder in den Wahnsinn treiben lassen. Ja, es ist diese ganze Un-Ordnung, die weg muss. Die Forderungen nach Bewegungsfreiheit, nach Bleiberecht – und auch bereits nach humanitärem Schutz! – sind revolutionär. Nimmt man sie ernst, führen sie auf den Weg einer radikalen Gesellschaftveränderung. Lasst uns diese selbst in die Hand nehmen.Lasst uns beraten, lasst uns wieder in Bewegung kommen. Gegen die Barbarei, wie auch immer sie auftritt. 

(1) Während wir diese Zeilen schrieben, äußerte sich ganz ähnlich ein langjähriger Aktivist öffentlich und sprach vom Übergang von der Verdrängungsgesellschaft zur Arschlochgesellschaft: „Die Eopche der Menschheitsgeschichte, in der […] das nationalegoistische, patriarchale Arschloch den neoliberalen Soziopathen als dominantes Subjekt ablöst: die nenne ich das Arschlochozän – the age ofassholes“. (Tadzio Müller)  

KEINE BÜHNE FÜR TÄTER UND IHRE FANS

Zur causa Lindemann –

Als im Mai dieses Jahres die ersten Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen Till Lindemann öffentlich wurden, hat uns das nicht sonderlich gewundert. Es ist nicht das erste Mal, dass bekannt wird, dass Männer in machtvollen Positionen, diese gegenüber FLINTA* ausnutzen. Es ist sehr vorstellbar, den Betroffenen Glauben schenken zu müssen, wenn es sich bei Lindemann um eine Person handelt, die schon lange misogyne und gewalt-verherrlichende Texte und Videos veröffentlicht, sich selbst heroisiert und als rebellischer Mann stilisiert. Es ist die natürliche und in Teilen auch richtige Reaktion, all die Wut und Enttäuschung, über die Miss-Funktion dieser Welt in einen solchen konkreten Fall zu kanalisieren und einfach mal rauszulassen. Es ist gleichzeitig kein Einzelfall, nicht in der Branche und nicht generell. In unser aller Leben sind patriarchale Strukturen omnipräsent: wir erleben sexistisches und Queerfeindliches Verhalten an der Arbeit, in der Uni, in der Familie, in den Medien die wir konsumieren; ja auch in unseren engsten freundschaftlichen und politischen Kreisen und ja auch in uns selbst, wenn wir uns in Konkurrenz fühlen, denken minderwertig zu sein oder andere gedanklich abwerten.
Das heißt aber nicht, dass wir uns an die Scheiße gewöhnt haben und so weiterleben wollen, dass die Causa Lindemann als Fall für sich genommen werden kann; ein Mann der Lindemann kritisiert dadurch zum besseren Mann wird oder die FLINTA*, die ihre Wut hier projizieren wollen, überhaupt daran glauben damit gleich das ganze Patriarchat abschaffen zu können.Es wäre ja tatsächlich schön, wenn die Stimmen der Betroffenen gehört würden.Es wäre ja tatsächlich schön, wenn auf derartige Handlungen auch Konsequenzen folgen würden.Aber nein: Aussagen von FLINTA* werden banalisiert, den jungen Frauen, die Vorwürfe gegen Lindemann und co. erheben nicht geglaubt. Wundert es uns noch?
Ein Exkurs ins Strafrecht:Das Verhältnis der angezeigten zu verurteilten Anzeigen wegen sexuellen Übergriffs stehen in keinerlei Verhältnis zu anderen Kriminalstatistiken. Für eine Verurteilung braucht es einen direkten Zusammenhang zwischen Gewalt und sexueller Handlung, der als solcher natürlich bewiesen werden muss: hier steht häufig Aussage gegen Aussage. Und wie die dauerhafte Gewalt und Unterdrückung nachweisen, wenn sie strukturell in der Gesellschaft verankert ist? Um einen sexuellen Übergriff nach §177 I, II StGB handelt es sich unter anderem nur, wenn eine sexuelle Handlung eindeutig gegen den erkennbaren Willen der betroffenen Person stattgefunden hat. Neben dem Nein heißt Nein Grundsatz, müsse aus der Sicht eines objektiven Beobachters dem „Opfer“ zuzumuten sein, dem entgegenstehenden Willen zum Tatzeitpunkt eindeutig Ausdruck zu verleihen; oder es sich um einen Sachverhalt handeln, bei denen Äußerungen des Gegenwillens unmöglich oder unzumutbar waren.Doch wie werden diese Grundsätze interpretiert und zugunsten von wem wenn es um die Anwendung geht?
Zum einen werden in der gesamten Auseinandersetzung mit der Causa Lindemann der Konsum von Alkohol und anderen Substanzen banalisiert zumindest medial selten in die Beurteilung der Willensbildung der Betroffenen mit aufgenommen. Zum anderen spielt die gewaltvolle psychosoziale Beziehung zwischen Fan und Star anscheinend keine Rolle, „die Frauen hätten sich ja freiwillig in die Situationen begeben“: ABER die Hierarchie zwischen dem reichen, mächtigen Star und den Fans, die diesen Star schon seit Jahren verehren ist besonders groß. Die von den jungen Frauen beschriebenen Begegnungen mit Lindemann ergaben sich recht spontan, sicherlich waren sie geladen von Aufregung und Adrenalin. Sie waren allein mit ihm, er ist groß und kräftig und ihnen körperlich überlegen. Aber auch die geschlechtlich sozialisierte Komponente spielt eine Rolle: im binären Gesellschaftsideal ist die Frau dem Mann untergeordnet und grundsätzlich zum Sexualobjekt reduziert.
Dieses Verhältnis erscheint allen „normal“ und deshalb ist es eher ungewöhnlich die eigenen Grenzen zu kennen und auszuformulieren. Dass Situationen in Teilen erst im Nachhinein hinterfragt werden, hat nichts damit zu tun, dass sich die eigenen Maßstäbe von Gut und Böse willkürlich verschieben, sondern wir begreifen, dass so was eben (the F*ck) nicht normal ist. Und das bedarf leider immer noch sehr viel Mut, auch gegenüber sich selbst.Und so wird am Ende doch eher einem weißen, wohlhabenden Hetero-Cis-Mann geglaubt, als einer von Gewalt betroffenen FLINTA*, die die Vorwürfe nur hervorbringe, um Berühmtheit zu erlangen.Aber sorry aber es handelt sich um den Bericht der tagtäglichen Realität und den von Verzweiflung geprägten Versuchen endlich angehört zu werden. Nein es macht nämlich keinen Spaß von der eigenen Erniedrigung und eigenen Ängsten zu erzählen, ständig darüber nachzudenken und nicht ernst genommen zu werden, wir hätten wirklich besseres zu tun!
Dazu kommen die Fans von Lindemann, die ihn verteidigen und verehren. Till hat für sie diese Position, ein bisschen was rebellisches, aber vor allem strahlt er heteronormativen Sex und Rock’n Roll aus. Damit identifizieren sich in der Regel gerne andere Männer, wollen so sein wie Lindemann, finden was er repräsentiert und präsentiert richtig, fühlen sich in ihren männlichen Identitäten bestätigt. Sie bekommen die Berechtigung dann auch mal wieder so richtig rebellisch und männlich sein zu dürfen. Und dann sind sie deshalb auch in ihrem eigenen kleinen Ego gekränkt, wenn wir Tills Verhalten und somit auch ihre eigene Wahrheit angreifen und sie gespiegelt bekommen, dass wir Männer und Menschen wie sie gar nicht geil finden: ihre sexistische Scheiße ankreiden und delegitimieren!
Es ist wichtig, auf die patriarchalen Verstrickungen des Rechts hinzuweisen, die immer wieder dazu führen, dass betroffenen Frauen nicht geglaubt und Täter nicht verurteilt werden. Es ist daher auch für uns als Feminist*innen notwendig, für Verbesserungen innerhalb des Rechtssystems, für die rechtliche Anerkennung patriarchaler Gewalt bis hin zu Feminiziden zu kämpfen. Es ist wichtig, öffentliche Einrichtungen wie die Halle Münsterland anzuklagen, dafür dass sie Tätern eine Plattform geben. Es ist wichtig, dafür die breite Gesellschaft zu mobilisieren, sei es über Aufklärungsarbeit, Kundgebungen und Petitionen. In einer Welt von rechtlichen und gesellschaftlichen Missständen müssen wir für eine Verbesserung dieser kämpfen.
Zugleich können und wollen wir dabei nicht stehen bleiben. Denn wir wissen, dass wir uns auf staatliche Institutionen, das Recht und die Polizei am Ende nicht verlassen können. Sie werden keine Komplizen in unserem Kampf gegen das Patriarchat sein.Unsere Politik als linksradikale Feminist*innen muss deshalb über Appelle an die Stadtgesellschaft oder den Staat hinausgehen.Unsere Wut darf nicht in Bitten um kleine Verbesserungen oder die Verhinderung des schlimmsten Übels enden.Unsere Wut ist größer – sie richtet sich gegen patriarchale Herrschaft als Ganze, die durch diese Gesellschaft, durch Staat, Recht und Polizei aufrecht zu erhalten versucht wird & unser gesamtes Leben durchdringt.
Deshalb ist es notwendig – und hier appellieren wir nun an euch – dass wir uns als Feminist*innen über diesen Tag hinaus zusammentun. Weil wir wissen, dass Lindemann kein Einzelfall ist, müssen wir das Patriarchat auch an allen anderen Stellen angreifen, an denen es sich zeigt. Es ist gut, dass wir heute in großer Zahl hier gemeinsam stehen. Aber wir müssen uns auch weiterhin organisieren – gegen Gewalt an FLINTA*, gegen Feminizide, gegen die Diskriminierung queerer Menschen, für unser Recht auf sexuelle und körperliche Selbstbestimmung, für eine Welt, in der wir alle frei & selbstbestimmt leben können. Unser gemeinsamer feministischer Kampf ist mit der heutigen Protestaktion nicht vorbei – es gibt noch viel zu viele Till Lindemanns in dieser Welt. Und wir werden nicht aufhören, bis der letzte von ihnen das Maul hält.Deswegen: Bildet Banden, organisiert euch! Für ein Ende der Gewalt – Feuer & Flamme dem Patriarchat!