Rede zum 8. Mai 2020

Es ist längst überfällig, den 8. Mai zum anerkannten Feiertag zu machen. Dass es nicht so ist, lässt vermuten, dass einige den Tag der „bedingungslosen Kapitulation“ als trauriges Ereignis verbuchen. In der Tat ist die Vorstellung, die Deutschen seien die ersten Opfer des Nationalsozialismus gewesen und danach Opfer der Bomben der Alliierten und der „Vertreibung“ doch noch verbreitet. Vor diesem Hintergrund wäre der 8 Mai ein wichtiger Feiertag: Man soll lernen, sich über die Niederlage der Deutschen zu freuen. Doch es muss klar sein: nicht Deutschland wurde vom Nationalsozialismus befreit, sondern die Welt von der deutschen Barbarei. Die Deutschen standen bis zum Ende ganz drin im nationalsozialistischen Projekt – „befreit kann nur werden, wer meint, gefangen zu sein“. Die Deutschen waren Nazis und Volksgenoss*innen.
Doch in der Zwischenzeit sind die Deutschen Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung geworden. Sie wurden in der Tat Expert*innen für Gedenkkultur und wurden damit – so die andere verbreitete Meinung – wieder gut. Vergangenheit und die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus wurden zum Moment einer neuen nationalen Identität. Vor diesem Hintergrund könnte die Forderung, den 8.Mai zum Feiertag zu machen, nicht einwandfrei sein: Sie könnte Teil der Wiedergutwerdung der Deutschen werden, die darin ihre Schuld abwehren.
Alles entscheidet sich daran, was gefeiert wird und wer zu feiern hat. Gefeiert wird die (militärische) Zerschlagung des Mordkollektivs der deutschen Volksgemeinschaft, das zusammengeschweißt wurde durch den antisemitischen Vernichtungswahn. Feiern darf die ganze Welt, befreit von der nationalsozialistischen Bedrohung.

1. Der unbegriffene Nationalsozialismus

Ein Grund der problematischen Gedenkkultur – oft auch unter Linken – besteht darin, dass der Nationalsozialismus weitgehend unbegriffen bleibt. Nationalsozialismus wird gerne zum besonderen Fall eines autoritären Regimes gemacht und seine Spezifika verpasst.
(1) Im Nationalsozialismus werden die Krise und die sozialen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft nicht einfach durch autoritäre und nationalistische Maßnahmen integriert, mit dem Ziel, die Profitrate zu sanieren um dann tendenziell zum Normalbetrieb zurückzukehren. Der Nationalsozialismus ist vielmehr ein Projekt, in dem die Krise selbst zum Zentrum gesellschaftlicher Reproduktion gemacht wird – sie wird bejaht und nach außen gewendet. Damit baut das ganze nazionalsozialistische Projekt auf die Katastrophe.
(2) Nach innen wird Gesellschaft nicht mehr durch die bürgerlichen Vermittlungen (allgemeines Recht, private Freiheit der Bürger*innen…) und den Markt organisiert – und damit eben dessen Unsicherheiten ausgesetzt. An der Stelle des bürgerlichen Staates tritt der nationalsozialistische Unstaat, gekennzeichnet von Willkür und von der Konkurrenz unter Banden, die aber eine Einheit finden, in dem sie sich an das Projekt der Eroberung und an die Aufteilung der Beute beteiligen und um die Gunst des Führers konkurrieren. An der Stelle der Bürger*innen treten die Volksgenoss*innen: Sie sind im antisemitischen Wahn und in der Vorbereitung und dann Durchführung des Raubkrieges komplett mobilisiert, sie geben ihre Eigenständigkeit auf und gehen auf in die Volksgemeinschaft.
(4) Der letzte Kitt der Volksgemeinschaft war aber die Judenvernichtung, die als Selbstzweck verfolgt wurde: sie entsprach keinen Zweckrationalen Muster. Sofern die Juden*Jüdinnen als Personalisierung des Kapitals herhalten mussten, war die Shoah auch der wahnhafte Ausdruck des Versuchs, sich des abstrakten und Widersprüche erzeugenden Charakter des Kapitalismus zu entledigen, ohne den Kapitalismus zu überwinden. In der Wahnhaften Aufgabe der Judenvernichtung vollzieht sich die komplette Mobilisierung der deutschen „Volksgenoss*innen“; erst darin wird die deutsche Volksgemeinschaft erzeugt, in ihrer vermeintlichen Urspünglichkeit und Bindung an das Konkrete: Blut, Boden und Arbeit.

Eine solche Einheit in Vernichtung und Zerstörung, konnte nicht von Innen aufgebrochen werden, da auch jeder Ansatz des Widerstandes geopfert wurde: die Möglichkeit von Reflexion und Individualität, der Unterschid zwischen Einzelnem und Volksgenosse. Das „moral Bombing“ der Alliierten versuchte noch, an eine Restvernunft der Deutschen zu appellieren in der Hoffnung, sie würden gegen die NS-Spitze rebellieren. Doch vergebens: Die deutschen waren zur Selbstaufopferung bereit, um bis im letzten Akt, Deutsch zu werden – während sie sich selbst dann, als die Niederlage sicher war, in der Elimination der Jüdinnen*Juden betätigte. Deshalb konnte diese absolute Identität des rasenden Kollektivs nicht anders als von außen und zwar militärisch aufgehalten und zerschlagen werden.

Das taten die Westallierten und die Rote Armee. Sie befreiten damit die Welt von der ultimativen Todesmaschine, die der NS-Staat war.
Dafür soll die gesamte Welt ihnen dankbar sein. Diese Dankbarkeit soll im Land der Täter sicher Raum bekommen – ohne vereinnahmt zu werden.

2. Postnazistische Kontinuitäten

Unter Begleitung und Überwachung der Allierten gelang eine gewisse Befreiung der Individuen von der Dauermobilisierung in der Volksgemeinschaft und die wiedereinführung der republikanischen Form vorgenommen werden.

Gleichzeitig blieben starke nachnazionalsozialistsiche Kontinuitäten. Das sind nicht nur die vielen ehemaligen Mitglieder und Funktionäre der NSDAP, die nach 1945 politische Ämter inne hatten.
Da wären vor allem die postnazistischen Sozialpakte, die immer noch auf eine höhere Einheit der Gesellschaft im Volk verweisen. Da wäre der Appell an Standort und Allgemeinheit zu denken und bitte individuelle Interesse zurückzunehmen.
Auch die typisch deutsche Auffassung von Arbeit als Selbstzweck lebt fort in den rassistischen Diskursen und in der Anfälligkeit für regressiver nicht selten antisemitischer Kapitalismuskritik.
So ist der*die Nachkriegsdeutsche selbst potentiell dauermobilisiert. Dass diese Mobilisierung bisher nicht allzu bedrohlichen Charakter gewonnen hat, hat damit zu tun, dass der „Wirstchaftswunder“ zum Ersatzobjekt gemacht wurde. Übrigens: Dieser war nur möglich, weil Deutschland von der verdienten und vernünftigen Rache verschont blieb und Mittel für einem Wiederaufbau durch die Allierten bekam.

All das heißt: Ein Umschlagen in eine erneute offene Mobilisierung, im klassischen völkischen Rassismus und Nationalismus, ist gerade in Krisenzeiten nicht auszuschließen.

3. Konsequenzen

… Gedenken und feiern geht also nur, wenn man die richtigen Konsequenzen zieht.

Dazu zählen wir den unbedingten Einsatz dafür, dass sich Auschwitz nicht wiederholt. Und das heißt auch die Unterstützung des Staates der Überlebenden, Israel.

Dazu zählen wir erbarmungslose Kritik der deutschen Ideologie, in allen ihren gestalten.

Dazu gehört das Bewusstsein, dass dem Land der Täter Frieden gegeben wurde und die Rache erspart blieb. Vernunft hätte gewollt, dass dieses Land nicht mehr existiert. Dazu gehört also die Erinnerung daran, dass alles, worüber deutsche meinen irgendwie stolz sein zu dürfenfolge dieser Begnadigung sind.

Dazu gehört mit Adorno zu wissen: „Daß der Faschismus nachlebt… rührt daher, daß die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismuszeitigten…Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heutenicht gebrochen.“

Aber die letzten Monate haben vor allem Kontinuitäten in Hinblick auf Rassismus und Antisemitismus offengelegt. Die Anschläge gegen die Synagoge in Halle und dann der Attentat in Hanau machen klar, dass der völkische, antisemitische und rassistische Wahn sehr wohl existiert und Menschen mobilisiert. Das fortwesen dieser bedroht unmittelbar Menschen, die rassifiziert werden und Juden*Jüdinnen.
So passt es sehr gut, dass zum 8.Mai migrantische Selbstorganisationen zu einem „Tag des Zornes“ aufrufen. Sie „fordern alle Menschen mit Migrationserbe, jüdische Menschen, Sinti*ze und Rom*nja, Schwarze Menschen, people of colour, BIPoC und alle solidarischen Menschen auf“, zu streiken. Sie schreiben: „Da die Politik dabei zusieht wie unsere Geschwister und Freund*innen, auch unsere antifaschistischten Genoss*innen, bis heute sogar in staatlichen Institutionen ums Leben kommen, können wir uns nicht auf sie verlassen.
Wir sind nicht still, wir lassen uns nicht einschüchtern, wir führen keine rassistischen Diskussionen, wir überlassen Nazis nicht die Straßen. Wenn Deutschland weiter mit Nazis schmusen möchte, geschieht das ohne uns!“
Deshalb sehen wir uns dazu verpflichtet, ihren Kampf und ihre Selbstverteidigung zu unterstützen. Migrantifa jetzt!

Nie wieder Faschismus!
Gegegn jeden Antisemitismus!
Deutschland Abschaffen!