In Solidarität mit der Projektstelle „Veranstaltungen zur Ideologiekritik“

Left issues: Von notwendigen Entflechtungen und der bleibenden Aufgabe, dem Wahn dieser Verhältnisse zu widerstehen.

Die Projektstelle Veranstaltungen zur Ideologiekritik“ wurde faktisch vom AStA der Universität Münster abgeschafft. Und dies durchaus mitunter aus ideologischen Gründen.  (Zum genauen Ablauf der Vorfälle: https://ideologiekritik-muenster.net/stellungnahme/stellungnahme-zur-beendigung-der-kooperation-mit-dem-asta-der-uni-muenster/)

Die Projektstelle hatte über sechs Jahre lang extrem wertvolle Vorträge organisiert und einen unersetzlichen Beitrag geleistet hinsichtlich der Schärfung der Kritik an gegenwärtigen Verhältnissen und Ideologien (hier kann man sich einen Überblick über die im Laufe der Jahre organisierten Vorträge verschaffen: https://ideologiekritik-muenster.net/veranstaltungen/archiv/).

Wir bedauern diesen Vorfall sehr und erklären uns mit der Projektstelle solidarisch.

Besonders besorgniserregend – und dabei höchst symptomatisch für allgemeinere Entwicklungen – sind die Gründe für die Abschaffung der Projektstelle sowie die Weise, in der es dazu gekommen ist.

Anlass war die Einladung von Koschka Linkerhand und Ingo Elbe, deren Vorträge aufgrund ihrer Kritik an Ausuferungen postmoderner Identitätsfetischismen entsprechende Akteure gekränkt hatten [1]. Jene, die deshalb die Abschaffung der Projektstelle einforderten, lieferten keine inhaltliche Begründung ihrer Behauptung. Ob diese Einstufung tatsächlich auf ihren Gegenstand zutraf, durfte nicht zur Diskussion stehen: Um Inhalte ging es sowieso nicht. Stattdessen wurde auf Statements dritter Personen und Gruppen verwiesen, die aufgrund ihres Sprechorts absolute Definitionsmacht über das Thema haben sollten. Das Vorgehen war darin autoritär.

Es war damit den Projektstelleninhaber:innen von Anbeginn untersagt, sich zu den Vorwürfen zu verhalten. Die einzig angemessene Reaktion sei ein Prozess der Einsicht und Wiedergutmachung seitens der vermeintlichen Täter:innen. 

Der darauffolgende Protest der Projektstelleninhaber:innen (eine davon selbst von Rassismus betroffen) und die Forderung, eine inhaltliche, gegenstandsbezogene Debatte auszutragen, da es nun mal um Inhalte ging, wurden als Versuch des Derailment und selbst als rassistisches Verhalten gewertet. Mit den Begriffen sozialpsychologischer Korrektur machtgeladener Diskurssituationen wurde konsequent einer inhaltlichen Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen. Traurig ist dabei nicht zuletzt die Verzerrung und Verzweckung antirassistischer Anliegen, um das, was klar als einen ideologisch motivierten Angriff zu bewerten ist, als Gegenwehr darzustellen und nicht weiter rechtfertigen zu müssen.

Dabei spielte sich auch etwas anderes ab: Ob gewollt oder nicht, wurde versucht, einen Alleinanspruch poststrukturalistischer Ansätze und der von diesen abgeleiteten Praxisformen durchzusetzen, gar die Ausschaltung einer an kritischer Theorie geschulten Position. Das Absurde ist dann definitiv erreicht, wenn im Namen von Safe Spaces, Sprachregelungen und Verhaltensformen längst nicht mehr der Schutz potentieller Opfer gegebener Herrschaftverhältnisse oder menschenverachtender Ideologien gewährt wird, sondern selbst emanzipatorische Kritik angegriffen wird – und zwar unter Absehung von den Inhalten. [2a]

Auch ist nicht zu übersehen, dass sich über postmoderne Gestalten von Aktivismus aktuell Antizionismus und problematische Gestalten von Antiimperialismus in universitären Räumen breitmachen. Dieses Ticket gilt es dringend zu unterbrechen – auch im Namen antirassistischer und queerer Kämpfe.

Es verwundert auch nicht, dass sich all das im Raum einer Hochschulpolitik ereignet hat, die sich selbstverständlich auf dem Terrain des herrschaftlichen Status quo bewegt, während sie sich mit einer schematischen Aneignung und Verabsolutierung von Ansätzen und Parolen aus identitätsbezogenen Kämpfen und aus akademischen Diskursen poststrukturalistischer Prägung einen radikalen Anstrich gibt – diese selbst ihrer kritischen Pointe beraubend und ihre konformistischen Aspekte austragend. [2b]

Warum dies für uns zum Fallstrick für progressive Debatten und Kämpfe werden kann, und warum sich an diesem Vorfall und dessen Ablauf zudem allgemeine Dynamiken ablesen lassen, wollen wir im Folgenden weiter begründen – die folgenden Ausführungen beziehen sich damit nicht in all ihren Teilen unmittelbar auf die Vorfälle in Münster.

Gleichzeitig sollen die folgenden Seiten eine kurze Einleitung in den Begriff der Kritik anbieten und Hinweise über Engpässe und Schwierigkeiten poststrukturalistischer Ansätze geben. Dies schreiben wir auch im Sinne einer Verständigung. 

1. Ideologiekritik: Was soll sie?

Voraussetzung dieser Vorfälle ist die Tatsache, dass Sinn und Vorgehen materialistischer Ideologie- und Gesellschaftskritik nicht verstanden werden [3]. (So wurde in diesem Fall die Kritik an Erscheinungsformen von Antirassismus oder an Aspekten Queerer Theorien und Aktivismus jeweils als rassistisch und queerfeindlich gedeutet; so wird versprochen, dass man sich um eine Projektstelle bemühe, ‚die wahrhaftig Ideologiekritik betreibe‘). Darin wird Sinn und Art der in den Vorträgen ausgeübten Kritik nicht verstanden sowie das, was Ideologiekritik zu leisten hätte, falsch bestimmt oder verzerrt.

Vorweg: Ziel einer progressiven Praxis ist die Abschaffung des schlechthin Vernunftwidrigen – d.h. die Last von Herrschaft und Gewalt auf dem Individuum – um die Bedingungen seine Autonomie hervorzubringen, die reale Ermöglichung von Selbstbestimmung. Materialistische Gesellschafts- und Ideologiekritik ist diesem universalistischen Maßstab der Emanzipation verpflichtet, der genau darin universal ist, dass er radikale Verschiedenheit der Einzelnen ermöglichen soll – die „opferlose Nichtidentität der Subjekte” – damit also das Gegenteil von „totalitär”. Sie weiß dabei, dass Emanzipation nur innerhalb realer Verhältnisse wirklich sein kann. Sie hat deshalb als ihren Gegenstand die gegebene unversöhnte gesellschaftliche Vermittlung, innerhalb derer Emanzipation verwehrt bleibt.

Diese Verhältnisse müssen auf ihren Begriff gebracht werden: den einer über, gegen und doch durch die Einzelnen hindurch sich konstituierenden und reproduzierenden Totalität. „Subjekt” dieser Gesellschaft, ihr synthetisierendes Prinzip ist das Kapital, der „prozessierende Widerspruch”. Eine solche gesellschaftliche Totalität ist ein Unding. In ihr ist die Vermittlung von Einzelnen und Allgemeinen in sich verkehrt: Das gesellschaftliche Allgemeine ist so bestimmt, dass es den Einzelnen Schaden antut. Sie erhält sich nicht trotz, sondern durch ihre Widersprüche, während in ihr die auseinanderklaffenden Momente durch zusätzliche Gewalt und ihre eigene Krise zusammengehalten werden müssen. Dieses Unding zu begreifen, ist daher eins mit der Kritik an dem objektiv vernunftwidrigen Charakter der Verhältnisse und mündet in der Entfaltung des Urteils über die Abschaffungswürdigkeit dieser Gesamtvermittlung – „im kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ 

Zu diesen Verhältnissen zählen auch rassistische Vollzüge und Rassismus erzeugende Aufteilungen und Hierarchisierungen von Menschen und eine bestimmte Normierung von Geschlechtern. Diese Formen von Herrschaft lassen sich nicht auf Kapitalherrschaft reduzieren, sind aber im Kapitalismus (als erste totalisierende und globale Gesellschaftsform) kapitalistisch geprägt und in den Dienst kapitaler Vergesellschaftung gestellt; sie sind relevante Momente der Gewalt dieser Gesellschaft genau darin, dass sie ihre eigene Gewalt entfalten. Ergebnis und gleichzeitig Voraussetzung dieser Gesellschaft ist eine „Spaltung der Menschheit”. Zu diesen Verhältnissen gehört auch die Möglichkeit ihrer falschen Negation, des Übergangs in die Barbarei, des Umkippens in den offenen Wahn und seiner antisemitischen Ausführung, die in Deutschland Wirklichkeit wurde: Nach Auschwitz kann der kategorische Imperativ der Umwerfung der Herrschaftsverhältnisse daher nicht ohne den Imperativ stehen, Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz, dass Ähnliches sich nicht wiederhole.

Die Kritik eines solches Undings, das sich aufgrund seiner konstitutiven Widersprüchlichkeit eben nicht auf einen Begriff bringen lässt, lässt jedoch nicht von der Arbeit des Begriffes ab. Diese muss nun so ergehen, dass sie eine Kritik der Begriffe leistet, unter denen die dieser Totalität unterworfenen Menschen die Momente dieser Totalität erfassen. Gegenstand ihrer Kritik ist dabei auch die Bedrängung der Selbstbesinnung und der Urteilsfähigkeit, die die Einzelnen erleiden und die in den unterschiedlichen Spielarten von Ideologie effektiv ist. 

Ideologie ist nicht erst die starre Weltanschauung, die unter ihren Kategorien zwanghaft alles zu subsumieren versucht oder eine Dissonanz von Denken und Gegenstand. Ideologie ist das notwendig falsche Bewusstsein dieser Verhältnisse, also das „richtige“ Bewusstsein falscher Verhältnisse. Ideologie zeichnet diese Gesellschaft in ihrer gegebenen Verfasstheit nach: Sie betrachtet Gesellschaft als Gegebenes, als Ding; sie geht mit den Widersprüchen dieser Gesellschaft mit, indem sie sie verkennt oder einseitig auflöst; sie betrachtet nicht inwiefern diese Gesellschaft auf der Praxis der – ideologisierenden – Menschen fußt. Diese Weltauffassungen sind dabei kein Zufall, sondern in der gesellschaftlichen Wirklichkeit begründet; Ideologie ist damit kein bloßes Bewusstseinsphänomen, dass man durch Trainings abschaffen könnte, sondern eine Frage der bewusstseinskonstituierenden Verhältnisse. Ideologie selbst ist damit ein Moment der falschen Vermittlung des Realen. Diese Verhältnisse, zutiefst irrational, führen in Unvernunft bis hin zum Wahn – auch wenn man es gut meint [4]. Die vollendete Gestalt des gesellschaftlichen Wahns ist die Kapitulation vor der den Verhältnissen eingeschriebenen Tendenz zur Verachtung bis hin zur Vernichtung der Individuen, ihrer Selbstbestimmung und Reflexionsfähigkeit, die im Denken programmatisch antizipiert wird, wenn bewusst gegen Vernunft, Individuum, Aufklärung gewittert wird. So muss Ideologiekritik dem sich immer wieder einstellenden „kollektiv wirksamen Wahn“, der aus dem Innersten der Gesellschaft entspringt, widersprechen. 

 

2. Ideologisch, auch wenn gut gemeint

Ideologien kommen in ihren Spielarten auch unter emanzipatorisch Gesinnten vor. Niemand ist von ideologischem Denken frei, dagegen muss aktiv gewirkt werden: Ideologien werden aber immer dann affirmiert, wenn von der Arbeit der Kritik abgelassen wird, um zur Weltanschauung überzugehen. Was geschieht?

 

  • Statt einer Kritik der falschen (gesellschaftlichen) Vermittlung, werden einzelne Momente innerhalb der widersprüchlichen Totalität gegen andere in Stellung gebracht, ohne die Grundlage des Widerspruches anzugehen. Das ist etwa der Fall, wenn Verhältnissen, die Individuen in Gruppen einsperren und in Verbindung damit benachteiligen, schlicht die positive Identifizierung mit der Gruppe als Lösung entgegengesetzt wird; das ist der Fall, wenn auf Kulturalisierung und Exotisierung von Individuen durch gesellschaftlich dominantere Gruppen mit einer programmatischen Selbstkulturalisierung geantwortet wird. [5]

 

  • Statt einer Kritik der verkehrten Gestalt von Allgemeinem wird ein Kampf dem Allgemeinen schlechthin angesagt, der im Kampf gegen Vernunft und Universalität mündet, also im Kampf gegen die Möglichkeit, sich in Reflexion und Kritik vom Gegebenen abzusetzen und im Kampf gegen das Ziel einer nicht repressiven Gleichheit aller als Individuen. Dabei wird verkannt, dass der Anspruch auf Universalität kritischer Theorie das exakte Gegenteil partikularer „westlicher“ Herrschaft darstellt: Ihr Maßstab ist die Abschaffung von Herrschaft und Gewalt, in Kontinuität zum universalistischen Impetus der Aufklärung und im radikalen Bewusstsein der eigenen Dialektik von Aufklärung. [6]

 

  • Ideologisch ist letzten Endes auch eine Gesellschaftskritik, die sich bloß an „Strukturen“ abarbeitet und als Machtanalytik vollzieht. Die Vermittlungen und die daraus resultierenden Formen, über die diese Gesellschaft synthetisiert wird, werden als oberflächliche Struktur wahrgenommen und als solche verworfen. Darin muss konsequenterweise der widersprüchliche Charakter der gegebenen Synthese (s.o.) verpasst werden: Gesehen werden nur mehr oder weniger repressive Strukturen, die es aufzubrechen gilt – ohne weiteren Begriff dieser und Einsicht in die Dynamik, die diese hervorbringt. Dem entspricht ein machtanalytischer Ansatz, in dem die Konsequenz zur Ursache gemacht wird: Die gegebene Vergesellschaftung führt sehr wohl dazu, dass Gruppen hervortreten, die – aufgrund ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Verortung – über mehr Macht und damit verbundene Privilegien verfügen; ausgeblendet werden aber sowohl die Verhältnisse, die Ursache des Machtgefälle sind, als auch die Tatsache, dass die grundlegende Form von Herrschaft, eben die der Verhältnisse selbst ist. Dies führt auch zur falschen Annahme, dass Herrschaft bloß als binäres und lineares Machtverhältnis zu verstehen sei, als direkte Unterdrückung einer Gruppe durch eine andere mächtigere Gruppe und ausschließlich als binärer Kampf der Unterdrückten gegen das genau identifizierbare Unterdrückende aufzufassen sei. Verhältnisse bleiben damit unbegriffen, emanzipatorische Kämpfe notwendigerweise in sich widersprüchlich, anfällig für regressive Momente und oft selbstbezogen. 

 

  • Die jeweilige, ideologielastige Theorie wird dann nicht zufällig oft als Glaubensbekenntnis und als Prinzip einer kollektiven Identität ausgeführt. Der Verzicht auf die Erkenntnis objektiver Wirklichkeit, der Verzicht auf universalisierbare Begriffe und Kriterien, lässt dabei eine verabsolutierte subjektive Befindlichkeit übrig. Diese allein (und nicht erst in der Verbindung mit einem Begriff der Verhältnisse) erheben den Anspruch auf unbestreitbare Deutungshoheit – der Schritt zur reinen Willkür ist kurz. Es entsteht begleitend eine komplexe Dogmatik, die die Art der Befindlichkeitsverletzung klassifiziert. Dabei wäre es mitnichten so, dass die unmittelbare Erfahrung des Leides unbedeutend sei: Sie wäre das Hinzutretende, der Ausgangspunkt des Urteils. Wird sie hingegen zum Moment der Reproduktion und Durchsetzung eines dogmatischen Gebäudes gemacht, wird auch ihre kritische Spitze gebrochen.

 

  • Dies kann zu einem Aktivismus führen, der zum Ziel hat, die unbegriffenen gesellschaftlichen Kränkungen durch sich selbst zu trösten und Subjekten das Gefühl einer Macht zu vermitteln, der die reale Ohnmacht kaschieren soll. Es wird ein Kollektiv affirmiert, das Schutz gewähren soll, mit dem sich die Einzelne identifizieren kann. Es ist oft genau dasselbe Kollektiv, dessen Zusammenhang mit Herrschaft Gegenstand der Kritik sein sollte, nämlich eine „Kultur“, auf die Individuen reduziert werden. Linke Zusammenhänge verwandeln sich vom Ort, in dem gemeinsam Kämpfe gegen die falsche Gesellschaft ausgetragen werden, zu einer Oase, in der ein Emanzipationsersatz geschaffen werden soll.

 

  • Was dann oft zählt, ist der Gestus der Auflehnung, während die abschaffungswürdigen Verhältnisse, weil unbegriffen, verpasst werden. Reflexion und Kritik werden durch Mobilisierung ersetzt, die hauptsächlich eine Identität verschaffen soll. Konkrete Gestalt der Mobilisierung, die gleichzeitig die Gruppenidentität und den Glauben festigt, ist der Angriff auf den auserkorenen Feind: Reflexion und Kritik selbst, sofern sie den Trug der Mobilisierung aufdecken.

 

3. Sinn und Grenzen identitätsbezogener Ansätze

Hier sei aber unmissverständlich klargemacht, dass eine progressive Linke nicht ohne eine Kritik der gesellschaftlich etablierten Normen und Zuschreibungen, die gerade auf der Ebene individueller Erfahrung und Biographie wirken, bleiben darf. Emanzipation will schließlich das gute Leben der Einzelnen und muss und will gerade Individuen in ihren unterschiedlichen Belastungen und Befangenheiten berücksichtigen. Das heißt auch, Betroffenheiten anzuerkennen, relative Privilegierungen zu erkennen und problematische Sozialisationen in Frage zu stellen. Diese Sensibilität ist noch relativ jung und nicht gänzlich durchgesetzt. Die Thematisierung individueller Betroffenheit und identitätsbezogene Ansätze haben ihre bestimmte und unersetzliche Funktion und Relevanz. 

Sich persönlich diskriminiert zu erfahren ist einerseits ohne weiteres etwas, was Protest legitimiert und verlangt, andererseits selbst Ausgangspunkt für eine unersetzbare (und doch nicht bloß darauf zu reduzierende) Art der Kritik dieser Verhältnisse: Sie artikuliert auf eine nicht mehr reduzierbare und nicht ableitbare Weise (als „Hinzutretendes“), dass diese Verhältnisse Gewalt antun und Leid verursachen. Diese Erfahrung ist unbedingt bedeutsam, sie ist auch ein Weckruf und eine Anklage. Erkannt werden kann sie nur von Betroffenen. Ihr gebührt Achtung.

Doch selbst diese Erfahrung muss sich, will sie zu einem Urteil über Verhältnisse führen, über allgemein nachvollziehbare Begriffe und nicht zuletzt über einen Begriff der Verhältnisse selbst vermitteln lassen. Dies gilt schon dann, wenn die individuellen Erfahrungen als Zeugnis für eine Gruppendiskriminierung gelten sollen. Und selbst Betroffene sind (im Moment der begrifflichen Artikulation), nicht vom Ideologischen verschont. Aus der Authentizität der Erfahrung folgt nicht, dass ihre begriffliche Artikulation, ja selbst das Urteil über die Verhältnisse richtig seien. 

Betroffene selbst sind jedoch absolut darin berechtigt, innerhalb des Bestehenden vorläufige Lösungen und Korrektive zu verlangen, die Diskriminierungserfahrung beheben – seien diese auch nur auf der sprachlichen Ebene verortet. Doch folgt daraus eben nicht, dass sich emanzipatorische Kritik und Praxis darauf reduzieren lassen soll. 

Außerdem lässt sich oft eine Neigung dazu beobachten, die politische Auseinandersetzung mit den Herrschaftsverhältnisse mit persönlicher Beziehungsarbeit innerhalb eines – in einem breiten Sinn gefassten – „linken Raumes“ zu ersetzen. Dann gewinnt ein Fokus auf die – an sich auch bedeutende – Reflexion von Umgangsformen und Redeverhalten, ja auch die Thematisierung von bewusster und unbewusster Gewalt, eine Ersatzfunktion. Dann wird das Ziel der Abschaffung unterdrückender, rassistischer, patriarchaler, queer-feindlicher Verhältnisse ersetzt durch das Ziel, einen gesamtlinken Safe Space aufzubauen und die Gesinnung der Einzelnen zu prüfen – dies alles als Selbstzweck (und nicht gemäß dem Sinn von Safe Spaces). Dann wird das Ziel, gesellschaftliche Diskriminierungen abzuschaffen, durch das Ziel ersetzt, innerhalb linker Räume die angestrebte Repräsentanz der intendierten Gruppen zu garantieren. Dann werden keine inhaltlichen Debatten geführt, sondern ausschließlich auf Sprechorte und Umgangsweisen geachtet.  

All das muss nicht sein, ist aber immer dann der Fall, wenn diese Ansätze und Methoden – getrennt von ihrem ursprünglichen Anliegen – schablonenhaft und reflexartig angewandt werden. Sie werden nicht selten zum einzigen Inhalt politischer Arbeit und zum einzigen Bereich der Politisierung.

Identitätsbezogene Ansätze selbst werden wiederum dann problematisch, wenn sie zur Weltanschauung und Welterklärung werden und damit enden, die doch durch Herrschaft erzeugten Identitäten und Aufteilungen zu affirmieren. Ihr Ort ist die Benennung und Bekämpfung von Benachteiligungen und Formen von Gewalt, die Menschen aufgrund ihrer (zugeschriebenen) Zugehörigkeit einer oder mehrerer Gruppen treffen. Dabei handelt es sich meistens um Gruppen, die selbst Ergebnis von Herrschaftsverhältnissen sind: Die zeitweilige Identifizierung mit dieser Gruppe ist funktional zur Bekämpfung von Gewalt und Benachteiligung: Ihr Fluchtpunkt ist die Abschaffung der Notwendigkeit, sich mit dieser Gruppe zu identifizieren und die Irrelevanz der gruppenbezogenen Merkmale für die Bestimmung der individuellen Identität (was auch hieße: Die Möglichkeit, sich frei damit zu identifizieren). 

Ein Schritt hin zur Aufhebung der Benachteiligung ist auch der Ausgang aus der durch eine geringere Machtposition erzeugten, oft internalisierten, Ohnmacht: In dieser Hinsicht ist auch eine Logik des „Empowerments“ unter Umständen sinnvoll, sowie eine „Reflexion“ der Umgangsweisen in linken Kontexten. Aber auch hier: das ist nicht der letzte Zweck. 

Die Form, in der dieser Konstruktion von Gruppenidentitäten begegnet werden soll, darf jedoch nicht in eine Naturalisierung/Essentialisierung dieser Gruppen übergehen. Diese Festgefahrenheit widerspricht zu Ende gedacht grundlegendem linken Bewusstsein, welches den Ist-Zustand ständig neu formen und denken, Hilfestellung statt Brandmarkung leisten möchte. Menschen auf die Eigen- und Fremdgruppen zu fixieren, führt oft dazu, dass Betroffene selbst sich diesem Labeling anheften müssen, um ihre Stimme und damit verbundene Deutungsmacht nicht zu verlieren. Am Fluchtpunkt dieser Tendenz steht nichts weniger als die Leugnung, dass individuelle Emanzipation Ziel der Kämpfe ist. 

Die streckenweise zurückgewonnene Macht bleibt außerdem partiell und innerhalb der bestehenden, diskriminierenden Gesamtverhältnisse, wenn sie nicht zu einer Kritik der außerhalb der einzelnen Subjekte stehenden objektiven Verhältnisse übergeht. Dafür ist aber ein Begriff dieser Verhältnisse nötig, der nicht unmittelbar mit der Betroffenheit gegeben ist. Ansonsten bleibt man in einem rein subjekt-bezogenen Spiel verfangen und paktiert mit den gegebenen Herrschaftsverhältnissen. Man entscheidet sich für das, was ohnehin ist. 

 

4. Ausblick

Wir meinen es ernst mit dem Zustand progressiver Kämpfe und Akteure. Auch das ist Anlass der von uns hier vorgelegten Kritik.

Wir halten die Tendenz, einen Alleinanspruch poststrukturalistischer Ansätze und der damit verbundenen politischen Praxis durchzusetzen, während materialistische Ideologie- und Gesellschaftskritik nicht verstanden gar zum Feind auserkoren werden, für äußerst denkwürdig und zerstörend.

Wir solidarisieren uns dabei mit partikularen Kämpfen und mit Betroffenen von der Gewalt der Verhältnisse. Wir sehen ein, dass auch unter progressiven Akteuren und in progressivenZusammenhängen rassistische Verhältnisse und (neo-)koloniale Kontinuitäten unterbelichtet bleiben. Wir erachten Kämpfe für Lebensformen als zentral. Wir erkennen die Gewalt, die sich auch über Sprache und symbolische Formen reproduziert und durchsetzt.

Doch für all das muss man sich einem objektiven Maßstab der Emanzipation verpflichten und eine auf dem Gegenstand der Herrschaftsverhältnisse ausgerichtete Kritik üben. Beides vermittelt die besondere Erfahrung und die partikularen Kämpfe mit einer doppelten Instanz des Universalen: das Universale (alle Betreffende) einer abschaffungswürdigen gewaltvollen und unvernünftigen Gestaltung der Welt; das Universale der Emanzipation als Hervorbringung der Bedingungen für selbstbestimmtes Leben. Anders gesagt: Die Überzeugung, dass es nur eine Welt gibt, in der aktuell Unterdrückungen und Zwänge generiert werden und es darum geht, jene Welt zu erkämpfen, in der Zwang, Angst und Gewalt abgeschafft werden und jede:r frei ist, sich selbst die Identität, die er:sie mag, zu geben. Oder besser: Mit sich nicht-identisch zu sein. Die Bedingung dafür ist aber die Kritik der ganz realen Verhältnissen, zu der auch die Kritik ideologischer Denkformen gehört. Dazu gehört, an dem festzuhalten, woraus der Widerspruch zum Gegebenen wächst: Die Fähigkeit zur Reflexion und Kritik selbst sowie die Fähigkeit zur Erfahrung und gleichzeitigen Ablehnung des Leides und des Zwangs. Andernfalls riskieren unsere Worte und unsere Kämpfe gegenstandslos und inhaltsleer zu werden. Um das eine zu ermöglichen und das andere zu vermeiden, haben an kritischer Theorie geschulte Ansätze allerlei anzubieten. 

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[1] Die Stimmungsmache kristallisierte sich um den üblichen Rassismusvorwurf gegenüber Kritiker*innen der regressiven Aspekte postkolonialer Theorien. Zum schablonenhaften und instrumentellen Rassismusvorwurf im Zusammenhang mit Kritik an problematischen Aspekte der Postcolonial Studies und zur Funktionsweise der damit verbundenen Debatte formuliert Elbe selbst: „Die öffentliche Debatte über die Probleme des Diskurses der postkolonialen Studien (PoCo) […] steht erst am Anfang. Wer solche Probleme diagnostiziert, dem wird von Fans oder Vertretern dieser Strömung häufig mit kollektiv-narzisstischer Kränkung und entsprechenden Abwehrstrategien begegnet. Die bedenklichste Variante dieser Abwehrstrategien […]: die totalisierte Verdachtshermeneutik in Gestalt des Rassismusvorwurfs. Diese Ersetzung von Argumenten durch Verweise auf Herkunft und Identität – und sei es die eigene – ist ein Musterbeispiel für die schablonenhafte Verwendung des Orientalismusmotivs seitens prominenter Vertreter des PoCo-Diskurses. […] Jede Kritik wird als „Othering“ delegitimiert, das heißt als bloß projektive, rassistische Abwehr verleugneter Selbstanteile und Probleme der eigenen Gesellschaft durch Kon­struktion eines minderwertigen Anderen. […] Noch fragwürdiger ist es, Kritikern ohne jeden Beleg ein rassistisches Motiv anzu­dichten. “  (https://taz.de/Debatte-um-Historiker-Achille-Mbembe/!5685526/)

[2a] Ob all das einer präzisen Agenda zu verdanken ist oder aus der automatisierten Anwendung von Schablonen und Prozeduren, sei offen gelassen. Es fällt jedoch auf, dass sich Ansätze, die nur „Diskurse“ und „Macht“ kennen und programmatisch die Idee verwerfen, es gäbe eine objektive Realität von Herrschaft, die es dann auch zu begreifen gilt, auch nur an realen oder vermeintlichen Machtgefällen und falschen Verhaltensweisen im Diskurs abarbeiten können. Es ist nur richtig, dass gerade im universitären Raum eher gruppenbezogene Diskriminierungen und Machtgefälle wahrnehmbar sind und auf die Ebenen ihrer Behebung sowie einer besseren Repräsentation gewirkt werden kann. Dies darf aber nicht zum Fehlschluss leiten, dass solche Ansätze den Alleinanspruch auf die Analyse von Herrschaftsverhältnisse haben müssen und auch die ultimative Antwort liefern können. Von ihrem Wesen her stellen sie die Frage, welche Diskriminierungen erzeugt werden und über welche Mechanismen und Strukturen sie reproduziert werden, nicht aber, in welcher Form von Gesellschaft und tiefgründigeren Dynamiken sie verwurzelt sind. Auch sollte man nicht der Illusion verfallen, dass durch die Erzeugung einer awaren und diversen Community auch jedem falschen Zustand entgegengewirkt werde. Wohlgemerkt: Wir kritisieren damit nicht die Anliegen identitätsbezogener Kämpfe und einer Diversity-Politik, sondern die Dynamiken, durch die diese so eingebettet werden, dass sie tatsächlich eine radikalere Kritik verunmöglichen. Das muss nicht sein; aber es passiert immer wieder. Das war hier der Fall. Das aber ist auch zumindest zum Teil in den Ansätzen selbst begründet. 

[2b] Statt die Verhältnisse, die für Ausschluss, Aufspaltung und Hierarchisierung verantwortlich sind, zu bekämpfen, betrachtet ein solches Milieu dann Inklusion innerhalb des bestehenden Unheils als das non plus ultra. Statt gruppenbezogene Diskriminierungen und die Notwendigkeit, sich über Gruppenzugehörigkeit zu definieren, um Nachteile zu beheben und im besten Fall abzuschaffen, sieht es das Nebeneinander von Diversität – aber bitte dann auch so, dass die Einzelnen sich strickt mit ihrer Gruppe identifizieren – als Zweck an sich an. Wobei Diversität unbestimmt bleibt: Es wird nicht mehr unterschieden zwischen der anzustrebenden Diversität selbstbestimmter Lebensentwürfe oder der stärkeren Repräsentation der Kategorien und Gruppen, in denen diese Verhältnisse Menschen hineindrängen, mit dem Ziel, Hierarchisierungen und Ausschlüsse vorläufig zu korrigieren einerseits, und der Bestätigung von eben solchen Hierarchisierungen und Zwangskollektiven durch eine verschönerte Integration in eben unheilvolle Verhältnisse, die zum zusätzlichen Zwang zur Identifizierung mit den Kategorien des Ausschlusses selbst führt, um überhaupt Teilhabe gewährt zu bekommen.

[3] Die Tatsache, dass unter dem Namen “Ideologiekritik” auch Gruppen und Einzelne auftreten, die das Gegenteil von Ideologiekritik treiben – nämlich selbst eine einseitige Auflösung der Antinomien kapitaler Vergesellschaftung und eine Identifizierung mit Macht, mit teils höchst problematischen Auswüchsen – tut dem Begriff keinen Abstrich.  

[4] Ob sie nun als Ratifizierung der bestehenden Verhältnissen durch ihre Rationalisierung in der Leugnung ihres antinomischen Charakters dahergeht, als einseitige Auflösung ihrer Antinomien in der Parteinahme für einen Aspekt des widersprüchlichen Ganzen, beziehungsweise in der Identifikation mit der Unterdrückung, die es zu beheben gilt, oder als (eventuell unbewusste) Antizipation der Krise in einer nihilistischen Bejahung der Katastrophe: Die unbegriffene Herrschaftsverhältnisse halten den:die Ideolog:in in ihrem Bann. 

[5] Allgemeinere Beispiele: So identifizieren sich einige uneingeschränkt mit dem Staat, als Garant individueller Rechte, ohne den Skandal wahrzunehmen, dass der Staat eine gewisse Freiheit und Gleichheit erst als Rechte garantieren muss (diese also nicht als selbstverständlich gelten), im gleichen Zug in dem er gewalttätig Verhältnisse stabilisiert, die eben reale Freiheit und Gleichheit verhindern und sowieso Millionen, die Nicht-Staatsbürger:innen, aus dieser Garantie ausschließt; so schlagen sich andere auf die Seite jeder Art „nationaler Befreiungskämpfe“, sofern diese gegen die Vorherrschaft „westlicher“ Länder wirken, ungeachtet der zum Teil expliziten regressiven Momente dieser Bewegungen.

[6] Darin wird die Tatsache, dass die Ideen individueller Freiheiten jenseits kollektiver Zugehörigkeiten, Universalismus, kritischer Vernunft in europäischen Länder deutliche begriffliche Formulierung fanden (wobei zu bedenken wären, dass sie sich gegen eigene, immer starke Tendenzen zur Gegenaufklärung zu behaupten hatten), über koloniale Herrschaft und bleibende Vormachtstellung Verbreitung fanden und immer wieder gegen ihren Sinn instrumentalisiert wurden, zum Grund einer prinzipiellen Ablehnung der universalistischen Instanzen der Aufklärung als selbst kultureller Partikularismus – während wiederum andere selbst Aufklärung als „westlich“ und als Merkmal kultureller Identität, die es zu verteidigen gelte, abrufen. Vielmehr wäre eben der universale Charakter von Kritik und Aufklärung, des Gedankens der Autonomie, der Instanz eines Universalismus als in sich transzendent gegenüber „Kulturen“ zu begreifen. Dies hieße wiederum, dass ihre adäquate Abrufung stets im Modus der Kritik von „Kulturen“ gegeben ist, selbst (und wahrscheinlich: zu allererst) der „westlichen“ Moderne, gerade dort wo sie sich auf „Aufklärung“ beruft. Damit ist eine Kritik „westlicher“ kultureller und politischer Hegemonie im Namen und mit den Mitteln einer wiederum selbstkritischen und selbstreflexiven  – einer ihrer Dialektik gewahren – Aufklärung zu leisten.