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Rede zur GEAS-Reform der EU

Gegen die Menschenfeindlichkeit – für das Leben!

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen, 
das, was momentan in Europa und weltweit passiert, kann uns eigentlich nur sprachlos machen. Vergangenen Mittwoch sind 750 Menschen vor der griechischen Küste von Pylos gekentert, womöglich wegen eines Push-Backs der griechischen Küstenwache. Nur 104 Menschen konnten überleben. Schon lange folgt auf grausame Fälle wie diese kein öffentlicher Aufschrei mehr. Zu sehr hat man sich schon gewöhnt an die tödlichen Konsequenzen des europäischen Abschottungs-Systems, an das Mittelmeer als Massengrab der Festung Europa. Diejenigen, die gegen dieses mörderische Grenzregime ankämpfen, müssen mit Gegenwehr und Repression rechnen. So wurde die Solidaritätsdemo vorgestern in Athen von der Polizei brutal angegrefriffen.
Immer unverhohlener zeigt sich das rassistisch-tobende Gesicht der EU.
Während laut dem UNO-Hilfswerk für Menschen auf der Flucht gerade mehr Menschen denn je ihre Heimat verlassen müssen – letzten Schätzungen zufolge etwa 108 Millionen – versucht die  EU mit allen Mitteln jede Möglichkeit zur Flucht nach Europa auszuhebeln: Nach der neuen Asylreform sollen Menschen auf der Flucht, dort wo sie ankommen, d.h. direkt an den EU-Außengrenzen, für bis zu zwölf Wochen in Sammellagern eingepfercht werden können, während sie anhand von sogenannten Schnellverfahren „überprüft“ werden. In den meisten Fällen folgt darauf eine brutale Abschiebung – nicht mal jedem zweiten Asylantrag wird laut dem ZDF stattgegeben. Geflüchtete Menschen werden dazu gezwungen, zurück in Länder zu gehen, in denen Krieg, Hunger oder autoritäre Regime ihr Unwesen treiben.

Diese neue Brutalisierung des europäischen Grenzregimes fällt nicht zufällig mit allgegenwärtigen autoritären Rollbacks zusammen – in Europa und auch in Deutschland, das doch ach so viel aus seiner Geschichte als Land der Täter gelernt hat. 
So hat etwa die ultra-rechte Regierung Italiens Migrationsbekämpfung zu den Hauptthemen ihrer Arbeit erklärt. Dabei findet rhetorisch eine perfide Täter-Opfer Umkehr statt. Nach dem staatlich zugelassenen Massenmord vor der Küste von Cutro, in Kalabrien, empfing Meloni die Angehörigen der Opfer und erklärte diesen, es sei unverantwortlich, das Leben mit dem Versuch das Mittelmeer zu überqueren zu riskieren. Angekündigt wurde eine „Jagd bis zum Ende der Welt“ gegen sog. „Schleuser“. Während die Regierung tatsächlich mit Milizen und mafiösen Strukturen kooperiert, die Migrant*innen schikanieren und die Überfahrten kontrollieren, werden durch die Rhetorik der „Schleuserbekämpfung“ vor allem Menschen, die auf der Flucht sind und in der Not Aufgaben während der Überfahrt übernehmen, oder gar Helfer*innen angegriffen. Das Bedürfnis von Menschen und die Entscheidung, ihre Länder zu verlassen, wird von dieser Rhetorik mit Menschenhandel gleichgesetzt. Als sei dies nicht schon genug, soll auch das System von Inhaftierungszentren für Migrant*innen (cpr) ausgebaut und somit eine wichtige Form des humanitären Schutzes abgeschafft werden. Mitglieder der Regierung verbreiten dabei ganz offen die Verschwörungserzählung des „großen Austauschs“, selbst der Kultusminister schreibt Bücher darüber. Kein Wunder bei diesen Zuständen: andere feiern Mussolinis Marsch auf Rom, ein offener Faschist ist Senatspräsident, ein traditionalistischer, homophober Ultrakatholik mit Naziverbindungen ist Präsident der Abgeordnetenkammer. 

Auch in anderen europäischen Ländern wie in Griechenland nimmt der autoritäre Kurs zu, wird der Hass gegen Migrant*innen offen geschürt, werden die Stacheldrahtzäune der Festung Europa noch höher gezogen, werden immer mehr illegale gewaltsame Pushbacks eingesetzt, um Menschen an ihrer Bewegungsfreiheit zu hindern. Der griechische Premier Mitsotakis proklamierte im Januar stolz: „Griechenland steht mutig an der Front einer effektiven Verwaltung der Migrationsfrage.“ Neoliberale Logik und Kriegsrhetorik verbinden sich unverfroren in dieser Aussage. Die Abschottung der griechischen Grenze, die tatsächlich als Krieg gegen Migrant*innen ausgeführt wird, wird als  „Verwaltungsfrage“ verbucht. Wie ein Aktivist der identitäten Bewegung spricht Mitsotakis weiter: „Griechenland bildet die Grenze Europas, und es ist unsere Pflicht, diese zu schützen.“ Dazu dient der ausgedehnte Gebrauch illegaler Pushbacks auf See, der Einsatz von Gewalt durch Frontexagenten, der Ausbau des Zauns am Evros. Dieses Europa schützt nicht, sondern tötet!

Auch in Deutschland wird der autoritäre Rechtsruck sichtbarer, Rassismus erneut salonfähiger. Die CDU spricht nun ganz offen der AfD nach: Merz spurt rassitisch vor sich hin, während Spahn Menschenrechte für etwas überholtes hält. Grüne, SPD, FDP setzen Politiken zur Repression von Migrant*innen, die die AfD sich wünscht durch, wie nicht einmal Seehofer es tat. So bedeutet die Zustimmung zur GEAS-Reform die Umsetzung vieler seiner Vorhaben. Die aktuelle Innenministerin Faeser – die ihr Amt mit einem Memorandum begann, das ganz offen Selektion von Migrant*innen anhand wirtschaftlicher Nützlichkeit vorsah – redet die GEAS-Reform dabei schön. Das Auswärtige Amt hält die vom Bundestag beschlossenen Gelder für die zivile Seenotrettung zurück. Alle zwei Tage finden Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte statt; die Lage erinnert zunehmend an die frühen 90er Jahre – doch für die Regierung und einen guten Teil der Öffentlichkeit steht der Feind klar links: Antifaschist*innen, Aktivist*innen der Klimagerechtigkeitsbewegung, Antirassist*innen. So werden in Dresden Antifaschist*innen zu unverhältnismäßig langen Haftstraßen verurteilt und in Leipzig hebelt man mit allen juristischen Umwegen mal eben so die Versammlungsfreiheit aus. Die AfD erreicht dabei nie gesehene Hochs in Wahlumfragen.

Bereits 1997 schrieb Wolfgang Pohrt:
“Die Abschaffung des Asylrechts, die Verstärkung der Grenzen incl. Grenzschutz, […] die Errichtung rassistischer Barrieren im Landesinneren gegen „kriminelle Ausländer“ usw. hat  Hochkonjunktur. Jeder Mord, jeder Angriff auf Migrant*innen und Flüchtlinge, jedes faschistoide und rassistische Gesetz ist ein Sandsack mehr zur Verstärkung der rassistischen Deiche am Rande und im Innern Deutschlands. Es ist die Voraussetzung für das Deutschwerden der Einheimischen (nach dem Motto: geboren als Mensch, entwickelt zum Deutschen, geformt zum Vollstrecker)“.
Diese Worte könnten auch heute geschrieben worden sein. Es ist dieser institutionelle Rassismus, der Altagsrassismus, der Rassismus der „bürgerlichen Mitte“, der zu einen Zustrom zum rechten Rand führt, der Rassismus salonfähig macht und Nazis in Sicherheit wiegt. Es ist dieser Rassismus, der Menschen in Moria einpfercht und sterben lässt. Es ist dieser Rassismus, der nach Syrien abschiebt, Geflüchtete kriminalisiert und Nazis gewähren lässt. Es ist der Rassismus der „Mitte“ von CDU und SPD. Auf diese Parteien und auf den Staat ist kein Verlass in unserem Kampf gegen Rassismus und Faschismus, denn sie werden diese Probleme nicht lösen. 
Das ist auch kein Wunder: Denn Freiheit und Leben, selbst Überleben von Menschen sind keineswegs sicher, wenn sie in der Form von Menschenrechten garantiert werden sollen, die nur durch Nationalstaaten konkret werden.
Der kapitalistische Nationalstaat ist ein Ungeheuer: Er wird Menschen daran messen, wie nützlich sie gerade für die Steigerung der Profite und des Bruttoinlandprodukts sind. Ansonsten werden sie als Last wahrgenommen. Der „Gated Capitalism“, der immer mehr ausgebaut wird, soll die schrumpfenden Zonen der reicheren kapitalistischen Zonen nach außen hin abschotten, während Wettbewerb und Konkurrenz im Inneren toben. Nationalstaat bedeutet immer schon eine Aufteilung der Menschheit: Und zwar potentiell gegeneinander. Menschenrechte sind damit einem per se menschenverachtenden Monster anvertraut. Rechte Parteien und Diskurse drücken offen dieses Verständnis aus. Bürgerliche, liberale, sozialdemokratische, grüne Parteien setzen das ohnehin von selbst durch – mal rechtfertigen sie das als Einsicht in Sachzwänge, mal verschönen sie rhetorisch die offene Brutalität. Diese Welt konkurrierender, kapitalistischer Nationalstaaten ist ein infames Unding. Sie rechnet immer mit Ausschluss und Mord, sie macht Menschen überflüssig, verzichtbar. 

Brick by Brick, Wall by Wall – es ist diese ganze Ordnung, die weg muss. Die Forderungen nach Bewegungsfreiheit, nach Bleiberecht – und auch bereits nach humanitärem Schutz! – sind revolutionär. Nimmt man sie ernst, führen sie auf den Weg einer radikalen Gesellschaftveränderung. Lasst uns dies in die Hand nehmen – Feuer und Flamme der Festung Europa!

„…um des Lebendigen Willen“ Ein Jahr nach dem Angriff: Solidarität mit dem Widerstand in der Ukraine.

I.               Ein Jahr Terror
Ein Jahr ist nun seit dem Beginn der Aggression auf die Ukraine durch Putins Russland vergangen. Der Angriffskrieg zielt u.a. auf Zerstörung und Demütigung der ukrainischen Bevölkerung ab. Auch Massaker an Zivilist*innen oder die Destruktion der Infrastruktur und Energieversorgung in der Mitte des Winters, um so viel Leid und Not wie es nur geht zu erzeugen, gehören zum Repertoire dieser Aggression. Gleichzeitig werden tausende von zwangsrekrutierten russischen Bürger*innen, insbesondere aus marginalisierten Regionen und Nationalitäten, durch Russland verheizt. Ukrainer*innen fanden sich von der Situation selbst an die Front versetzt, um ihr Leben zu verteidigen. Direkt wurde klar: Es hängt davon ab, wie und mit welchen Mitteln die Ukrainer*innen sich verteidigen können, wie Leid verhindert oder zumindest gemindert wird und Putins Aggression aufgehalten werden kann. Das Sterben zu verhindern – darum geht es an erster Stelle, wenn man auf diesen Krieg schaut.

Diplomatische Verhandlungen waren bisher nie eine realistische Option

Von Seiten der russischen Staatsmedien wird der Ukraine immer wieder ein Abbruch der Verhandlungen vorgeworfen. An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass die ersten Bedingungen Russlands quasi eine Selbstauflösung ukrainischen Lebens bedeutet hätten. Die Verhandlungen des Istanbuler Kommuniqués wurden in einem Zeitraum abgebrochen, als die Kriegsverbrechen in den befreiten Gebieten wie Butcha oder Irpin an die Öffentlichkeit gelangten. Im Angesicht des Grauens der systematisch verübten Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung weiterhin auf die Verhandlungsbereitschaft Russlands zu pochen, entlarvt die menschenfeindliche Elemente des querfrontlerischen Pazifismus.
Ja, tatsächlich geht es in diesem Krieg auch um eine Alternative innerhalb des falschen Ganzen dieser Weltordnung: Soll sich die Ukraine als liberale Demokratie weiterentwickeln oder zum Einflussbereich des russischen Neo-Imperiums Putins als Vasallenstaat zurückkehren? So unbefriedigend die Alternative einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, so klar ist es, dass diese die bessere ist.
Die russische Aggression manövriert die Menschen in der Ukraine in eine existenzbedrohende Situation. Sie beraubt sie jeglicher Alternative und zwingt sie zunehmend dazu, zwischen Leben und Tod zu wählen – und im Angesicht der tausenden zivilen Todesopfer scheint es absurd, sich dieser Alternative zu entziehen.

„The dogma of some left is, whoever you are, no matter how brutal the dictatorship, if NATO is against you, there must be ultimately something not totally bad in you. NATO is the automatic opponent. And I find all this reasoning so stupid… .“

Zizek

II.              Putins Russland: Alle für einen – einer für alle?
Man muss dabei im Blick behalten, was Putins Russland ist, wie es funktioniert, warum sich dessen Form und Politik wesentlich unterscheiden von derer bürgerlicher Demokratien und was die Aggression damit zu tun hat: Russland lässt sich aktuell am besten als sogenannter „Racket-Staat“ beschreiben. Mit dem Zerfall der Sowjetunion etablierten sich nur schwach bürgerlich-liberale Verkehrsformen, während gleichzeitig kapitalistische Wirtschaft in Form eines enorm deregulierten freien Marktes Einzug hielt. Das hat nicht zuletzt mit dem Handeln westlicher Akteur*innen nach dem Zerfall der Sowjetunion zu tun. In diesem Zusammenhang bildeten sich untereinander konkurrierende, bandenähnliche Machtfraktionen, die die reguläre Wirtschaftstätigkeit bestimmten. Putin machte sich auf, die Konkurrenz unter den Banden zu koordinieren: Er selbst bändigt dabei einige Rackets mit den Mitteln des staatlichen Gewaltmonopols, verteilt die Beute und lässt die Rackets um seine Gunst und um den Einbau ihrer Interessen in staatliche Ziele streiten. Die dabei erzeugte Einheit ist eine dynamische und daher instabile. 

Dabei muss auch die ideologische Komponente des Krieges beleuchtet werden. Unter Putin hat sich ein nationalistisches bis völkisches Denken verbreitet. Russland habe zu einer alten Größe zurückzukehren. Diese Größe wird dabei mystisch aufgefasst und aufgeladen: Das russische Volk müsse seine Seele und seine ursprüngliche Mission unter den Völkern wiederfinden. Diese bestehe darin, sich gegen die Dekadenz des Westens zu stellen, die Verbindung mit einem ursprünglichen Ganzen hochzuhalten. Dabei wird ein Kampf gegen Individualismus, den Materialismus des Westens und dessen „Nihilismus“ herbeigeschworen in dem man sich gegen „Globalisten“, „Finanzeliten“, „Genderideologie“ etc. in Stellung zu bringen habe – Interessen, wie sie auch die Neue Rechte und Alt-Right-Bewegung formulieren. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Ideologie des Eurasismus, wie sie etwa Dugin (der sich offen an Begleit-Denker des Nationalsozialismus wie Schmitt und Heidegger anlehnt), der christliche Faschist Ivan Ilyin oder Prochanow vertreten.

Die Sowjetunion wird dabei partiell aufgewertet, dabei jedoch ausschließlich als Zeichen nationaler Größe und Macht gedeutet. Dadurch wird Putin nicht zufällig zum Modell und Verbündeten der Neuen Rechten weltweit: Putin erhebt sich gewissermaßen zur Gallionsfigur der neuen Internationalen der „Souveränisten“ in den Parlamenten und ihrer außerparlamentarischen Bewegungen. Die Ukraine wurde in diesem Zusammenhang in typisch völkisch-faschistischer Manier selbst als dekadent, künstlich, „unrussisch“ gekennzeichnet, zum Sinnbild zersetzender Kräfte gemacht und im Stile einer Täter-Opfer-Umkehr – mit deutlich antisemitischen Motiven – als Aggressor dargestellt.

Auch die orthodoxe Kirche gewann erneut an Bedeutung, wobei der orthodoxe Glaube als Ausdruck der „russischen Seele“ und als Vorbereitung zum Opfer für das Ganze abgerufen wird. Der Patriarch Kirill erklärt mittlerweile den russischen Angriffskrieg zum „Heiligen Krieg gegen den Satanismus“. Demokratie, LGBITQ+-Rechte, Zivilgesellschaft: All das wurde und wird als unrussisch und westlich markiert und bekämpft. Am brutalen und mörderischen Umgang mit der queeren Community, am von Frauen- und Queerfeindlichkeit durchsetzten russischen Alltag kristallisieren sich die lebensfeindlichen Auswirkungen dieser regressiven Welten und Ideologien.

III.            (Neo-)imperialistische Sehnsüchte
Dem entspricht auch Putins Außenpolitik: Sie dient einerseits zur Erzeugung innerer Einheit – in der Befriedigung der konkurrierenden Machtbanden, in der Stärkung nationaler Identität. Sie inszeniert sich darin auch als „Widerstand“ gegen eine künstlich potenzierte Aggression des Westens gegen Russland, die man abwehren müsse. Sie ist dem „Schmerz“ geschuldet, den alten Einfluss auf die ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion verloren zu haben. Damit ist auch klar, dass die Gefahr für Grenzstaaten Russlands, zu Vasallenstaaten gemacht zu werden, keine Phantasterei ist. Außerdem zielt Putins Außenpolitik auf die Destabilisierung der internationalen Politik ab. Damit ist sehr wohl der Angriff auf die Ukraine als Teil eines Kampfes gegen die bürgerlich-liberale Ordnung zu sehen: Im Namen von etwas deutlich Regressiverem.

IV.            Lebend die befreite Gesellschaft erreichen
Oft kommt aber der Einwand: Ist nicht auch die Ukraine auf eine Weise nationalistisch, die für progressive Menschen unerträglich sein sollte? Sterben hier nicht auch Menschen für einen Nationalstaat? Eine radikale Kritik an Staat und Nation muss von einer progressiven Linken natürlich immer geübt werden (auch an der Ukraine, bei gegebener Zeit). Eine solche Kritik gelingt aber ohnehin nur zusammen mit einer Kritik von Kapital und Weltmarkt, mit einer Kritik der Gesamtverhältnisse. Angesichts der Notlage der Menschen in der Ukraine direkt auf diese Ebene zu springen, verschiebt aber den Fokus und lenkt von dem, worum es gerade geht, ab: der Abwehr eines tödlichen Angriffskrieges. Die Sehnsucht nach der befreiten Gesellschaft lässt man damit zur Floskel verfallen und bringt dabei die hunderttausenden akut Betroffenen schlichtweg nicht weiter – weil sie in der schlimmen Realität eines Krieges keine konkreten Handlungsoptionen unterbreitet. Hoffnung stiftet hier das, was die ganz simple Aussicht auf Überleben fördert. Die befreite Gesellschaft ist auch der Fluchtpunkt unserer Kritik: Sie darf aber nicht zur Flucht in eine abstrakte und generische Kritik werden, wenn es gerade um ein bestimmtes Urteil geht – dann ruft man die Namen der Befreiung ins Leere und macht sie zu Worthülsen. Hier geht es um den konkreten Erhalt des Lebens von Menschen und die Absicherung der minimalsten Freiheiten.

Der Fall Ukraine macht auch deutlich, was ein bürgerlich-liberaler Nationalstaat in der Gesamtheit des Falschen sein kann. In einer Welt von Staaten und Nationen werden – leider! – bestimmte Rechte und Freiheiten nur durch den Staat garantiert; ein bürgerlicher Rechtsstaat bewahrt seine Bürger*innen immer noch vor einer unmittelbaren Subsumtion unter das Volkskollektiv und lässt sich selbst von den Einzelnen anfechten. Dass aber diese Freiheiten existieren, ist die Voraussetzung, um ihre Verbindung mit der Staatsform überhaupt erst zum Gegenstand einer emanzipatorischen Kritik machen zu können. Und die Vorbedingung für jede emanzipatorische Revolution. Gerade eine Orientierung an der befreiten Gesellschaft verlangt den Einsatz gegen die größere Regression, ohne in die Apologetik bürgerlicher Gesellschaft zu verfallen. Eben das gelingt aber wiederum nur, wenn man auch in der Lage ist, eine Kritik ums Ganze, eine Kritik der Formen kapitalistischer Vergesellschaftung einschließlich ihrer immanenten Antagonismen zu leisten: Wenn man dann auch in der Lage ist, den liberalen Staat aufs Schärfste der Kritik zu unterziehen, ohne daraus eine Pose zu machen. 

Wir betonen es gerne noch einmal: Hier geht es um Leben oder Tod, um Aggressor und Angegriffene, um Schutz oder Ausgeliefertsein. Eine eindeutige, solidarische Positionierung müsste eigentlich ganz leicht fallen.

Deshalb…

…stehen wir uneingeschränkt auf der Seite der Menschen in der Ukraine, hier und jetzt, mit den Mitteln, die im Gegebenen notwendig sind. Wir sehen die Notwendigkeit der Selbstverteidigung, mit der Leben und Freiheit geschützt wird. Nach Walter Benjamin ist das: „Gewalt um des Lebendigen Willen“.

…stehen wir gegen die russische Aggression, aber auch gegen all das, was Putins Russland repräsentiert: Die Möglichkeit der größeren Regression, des Schlimmeren als eine kapitalistisch-liberale Ordnung. Die durchaus blutige Horizontlosigkeit der liberalen Demokratien ist verteidigungswürdig angesichts des offenen Todeskultes aller Putins, Khameneis usw. Das Infame gehört zurückgedrängt und besiegt!

…sind leere Rufe nach Frieden und Verhandlungen zu denunzieren, da sie jeglichem Realitätsbezug entbehren: sie sind nichts als zynische Worte auf dem Rücken tausender Opfer. Denn wie anmaßend, gefährlich, realitätsfern und naiv ist die bürgerlich-pazifistische Forderung nach einem Einstellen von (über-)lebensnotwendiger Selbstverteidigung. Jene Forderungen sind oft genug nur identitäre Selbstvergewisserung und leere Schablonen. Hoffnung hingegen ist immer nur konkret, sie muss in der Geschichte getan werden.

…stehen wir auch gegen die Instrumentalisierung der Solidarität mit der Ukraine, um willkürliche Erhöhungen des Militäretats durchzusetzen und deutschen Militarismus zu schüren, oder um zurück zur Braunkohle zu kehren – die keine Unabhängigkeit vom russischen Gas verschafft. Diese Verflechtungen, bei gleichzeitigem Zögern in der Unterstützung der Ukraine, zeigen, dass es dem freiheitlichen Westen selten wirklich um Freiheit geht – zumindest nicht um die der anderen.

…stehen wir solidarisch mit der ukrainischen Linken, die es auch in einer freien Ukraine sehr schwierig haben wird – aber dort erst ihre Kämpfe austragen kann.

…sind wir solidarisch mit den russischen Dissident*innen und vielen Protestierenden, die jeden Tag Gefängnis und Repressionen riskieren – und in einigen Fällen um ihr Leben fürchten müssen. Wir sind solidarisch insbesondere mit Queers, Linken, Aktivist*innen, Journalist*innen, deren Leben und Handeln tagtäglich bedroht wird. Wir hoffen, dass sich in Russland eine progressive Zivilgesellschaft etablieren und der vollkommene Übergang zu einer völkischen, ultra-reaktionären Diktatur aufgehalten werden kann.

…bleiben wir dabei: Für die Befreiung der Ukrainer*innen! Für den Sieg gegen Putin!

Redebeitrag: AfD Neujahrsempfang 20.01.

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Münsteraner Stadtgesellschaft!


Der Neujahrsempfang der AfD gehört mittlerweile schon fast so fest zum Münsteraner Jahresablauf wie der Send. Dieses Jahr setzt der Bezirksverband trotz -oder gerade wegen- seiner desolaten Lage einen drauf: Mit der Einladung an Björn Höcke bekennt man sich nun endgültig zum rechtsextremen (und eigentlich aufgelösten) Flügel, einer rechtsextremen Splittergruppe in einer schon rechtsradikalen Partei. Damit wäre eigentlich schon genug gesagt. Aber es lohnt sich dennoch, sich die heute geladenen hohen Gäste noch ein mal genauer anzuschauen. Da wäre zuerst einmal der bereits genannte Björn Höcke, der nach einem Gerichtsurteil von 2019 ganz rechtens als Faschist bezeichnet werden darf. Dass er mit dieser Ideologie keinerlei Berührungsängste hat, macht er in seinen Äußerungen immer wieder deutlich: Mal schwadroniert er vom „letzten Degenerationsstadium der Demokratie“, um sich dann im nächsten Atemzug wieder einen „Führer“ zu wünschen. Wen er sich in dieser Rolle wünscht, lässt er zwar offen, aber die Vermutung liegt nahe, dass er hier seine eigene Machtgeilheit projeziert.Das zweite Sternchen am kackbraunen Himmel heute Abend ist Christian Blex. Zwar dümpelt dieser nette Herr seit letztem Jahr als Fraktionsloser im Landtag von NRW durch die Gegend, aber auch er lässt sich dem „Flügel“ zuordnen. Wenn er nicht gerade auf Twitter gegen alle hetzt, die nicht in sein sehr eingeschränktes Weltbild a la „Ehe, Küche, Vaterland“ passen, dann besucht er gerne autoritäre Herrscher: 2018 unterhielt er sich auf seiner „Syrienfahrt“ mit dem Großmufti von Damaskus und machte deutlich, dass er dem politischen Stil eines Bashar Al Assads durchaus etwas abzugewinnen hat. In diesem Atemzug erklärte er Syrien übrigens auch – vermutlich gestützt von seiner großartigen Expertise – zu einem sicheren Herkunftsland. Den Vogel schoss er jedoch im letzten Jahr ab: er besuchte die im Rahmen des imperialistischen russischen Angriffskrieg besetzten „Volksrepubliken“ Donbass und Cherson. Man scheint in der AfD also auch zu einem Putin durchaus Parallelen zu sich selbst ziehen zu können. Kein Wunder, verteidigt der neue Zar von Moskau doch die Werte des „alten Westens“ gegen die Dekadenz der Moderne; namentlich: Rechte von Frauen und LGBTQ-Personen, freie Presse, Säkularität… die Liste ließe sich ewig fortführen.Letzter, aber nicht weniger verabscheuenswerter Gast heute Abend ist Daniel Zerbin. Recherchen zufolge gilt er als Bindeglied zur völkisch-faschistoiden „Identitären Bewegung“ und der „Jungen Alternative“, aus deren Reihen der ehemalige Oberstleutnant und Kampfsporttrainer auch rechte Schlägertrupps rekrutiert. Ein Blick auf die Facebookseite seines Sportstudios mit dem vielsagenden Namen „Sparta“ offenbart, welche Vision er von einer Gesellschaft hat: starke Männer, ohne jede Spur von Emotion, die ihr Vaterland verteidigen und unterwürfige, blonde, gebährfreudige Frauen, die ihren tapferen Kriegern die Wunden pflegen. Kommt einem irgendwie bekannt vor, oder? 

Halten wir kurz fest: heute versammelt sich hier die Creme de la Creme der Neuen Rechten aus NRW und Deutschland. In diesem Jahr sind aber nicht nur die Gäste beachtenswert, sondern auch der Titel der Veranstaltung und seine Implikationen: Man trifft sich unter dem feschen Titel „Frieden für Deutschland, Europa und die Welt.“ Zynischer und deutscher wird es wohl kaum: natürlich steht die geliebte Heimat an allererster Stelle; es gilt ja die Parole „Deutschland zuerst!“ Dass man sich damit ganz bequem aus jeder geopolitischen Verantwortung entziehen kann, ist die eine Seite der Medaille, die wir von der AfD kennen, die sich bekannterweise ja auch weigert, die Shoah, den Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden und die Ermordung von politischen Gegner*innen als Teil der deutschen Geschichte zu akzeptieren. Ebenfalls erschreckend ist es, wenn man sich den geforderten „Frieden“ einmal vor dem Hintergrund des Angriffskriegs gegen die Ukraine auf der Zunge zergehen lässt. Diese Männer, die gerade im Rathaus bei Canapés und Sekt „Frieden“ fordern, fordern gleichzeitig etwas, das sich ungefähr mit „Hände weg von Russland“ umschreiben ließe. Nicht nur, dass hier eine Täter-Opfer-Umkehr par excellénce stattfindet, nein! Mit solchen Parolen nimmt man mindestens in Kauf, dass sich die Massaker von Cherson, Butscha und Dnipro wiederholen und lässt einem Diktator den Weg frei, die Ukraine in seinen neuen Hegemonialstaat einzugliedern. Das kann kein Frieden sein, der diesen Namen verdient und den man unterstützen kann!

Erlaubt mir noch eine kurze Randnotiz, weil mich und viele von euch das Thema sicherlich auch beschäftigt: Herr Blex ist nicht nur begeisterter Kriegsgebietstourist, er nennt sich auch „Energiepolitiker“. Aus dieser Warte heraus fordert er eine „ideologiefreie Energiepolitik“. Diese Maxime scheint für ihn aber nicht zu gelten – in seinen Redebeiträgen schießt er gegen Klimaaktivist*innen – ah, pardon, Klimaterrorist*innen – jedweder Coleur und „zerstört“ in 3 Minuten die Windkraft, anstatt zu fragen, was nun wirklich für steigende Energiepreise sorgt und warum besonders Menschen im Präkariat frieren mussten. Aufgepasst, Herr Blex! Das liegt nicht etwa daran, dass wir den Planeten nicht noch länger brennen sehen wollen und einen sofortigen Kohleausstieg fordern – das liegt an der Profitgier von RWE und der kapitalistischen Verwertungslogik. 


Die AfD hat es in den letzten Jahren geschafft, die Grenzen des Sag- und Handelbaren immer weiter zu verschieben. Das ist ihnen bislang derartig gut gelungen, dass die Narrative, die 2014 als unsagbar galten, nun wie selbstverständlich im politischen Diskus aufgenommen werden.Als die Identitäre Bewegung 2015 ein Boot charterte, um damit Geflüchtete auf dem Mittelmeer an der Flucht nach Europa zu hindern, haben wir sie ausgelacht. Was vor nicht allzu langer Zeit als wahnsinnig galt, ist heute die seit Jahren von der EU geförderte staatliche Linie in der Flüchtlungspolitik. Getragen und unterstützt von allen Parteien im deutschen Parlament, umgesetzt von den Schlächtern der „Libyschen Küstenwache“.Das, was die AfD sät, fällt auf besonders fruchtbaren deutschen Boden. 


Genug jedoch der Kritik an der AfD. Mindestens genau so wichtig ist es heute Abend, uns als radikale Linke und besonders der „bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft“ mit ihren Parteien und Zeitungen den Spiegel vorzuhalten. Hier in Münster brüsten wir uns immer stolz damit, dass die AfD die schlechtesten Wahlergebnisse im Bund einfährt und wir doch so weltoffen seien. Ich möchte fragen: wie kann es dann in dieser weltoffenen Stadt jedes verdammte Jahr dazu kommen, dass sich eine rechtsradikale Partei hier trifft, um sich selbst abzufeiern? Scheinbar reicht es den meisten von uns, im Kampf gegen die Neue Rechte am Wahltag das Kreuzchen nicht bei der AfD zu setzen.  Aber das scheint ja nun irgendwie nicht zu reichen. Trotz schlechter werdender Wahlergebnissen kann eine ehemalige AfD-Abgeordnete mit anderen Faschos und Reichsbürger*innen einen Staatsstreich inklusive Hinrichtungen aller ihrer Feinde planen; trotz schlechter Wahlergebnisse können deutsche Cops und deutsche Soldaten unbehelligt in Chatgruppen gegen nicht „Biodeutsche“ hetzen, die Shoah leugnen, Schwarze Menschen in Gefägniszellen anzünden oder sie auf offener Straße erschießen, wie es letztes Jahr mehrfach passiert ist. Flüchtlingsheime brennen, Verschwörungserzählungen, die vor Antisemitismus strotzen, sind spätestens seit Corona wieder an der Tagesordnung und zu Beginn des Jahres wurde erneut eine rassistische Integrationsdebatte angestoßen. Diese Integrationsdebatte wurde nicht etwa von der AfD angeführt. Sie wurde unter anderem vom Parteivorsitzenden der Volkspartei CDU maßgeblich in Gang gesetzt.Und die anderen Parteien folgen brav. Die SPD bringt direkt weitere Gesetzesverschärfungen auf den Weg, die FDP und die Grünen stehen nickend daneben und begründen diese Repressalien mit den „harten Zeiten“. 


Das Problem ist auch, aber eben nicht nur die AfD. Die AfD ist der Auswuchs einer sich immer mehr offenbarenden autoritären, regressiven Tendenz in diesem Land. Es gibt sie in den anderen Parteien, es gibt sie in den Institutionen dieses Landes. Um diesen starken Wind von Rechts aufzuhalten, hilft es nur, sich ihm entschlossen entgegenzustellen. Es hilft hingegen garnichts, sich darauf zu verlassen, dass dieser Staat oder sonst wer uns vor dieser Barberei schützen kann und wird. Und eine Selbstbeweihräucherung wegen schlechter Wahlergebnisse eines einzelnen Symptoms dieser Entwicklung bringt erst recht nichts. 


Heute, wie an allen anderen Tagen des Jahres auch, muss man sich ins Gedächtnis rufen, dass Antifaschismus Handarbeit war, ist und bleibt. Dass das gute Leben für alle nur antiautoritär erstritten werden kann und außerhalb der bürgerlichen Mitte stattfinden wird. Lasst uns diesen Faschos da drinnen den Abend versauen. Lasst uns ihnen zeigen, dass wir sie weder hier noch sonst wo haben wollen. Lasst uns ihnen die Hölle heiß machen, mit allen Mitteln!