„…um des Lebendigen Willen“ Ein Jahr nach dem Angriff: Solidarität mit dem Widerstand in der Ukraine.

I.               Ein Jahr Terror
Ein Jahr ist nun seit dem Beginn der Aggression auf die Ukraine durch Putins Russland vergangen. Der Angriffskrieg zielt u.a. auf Zerstörung und Demütigung der ukrainischen Bevölkerung ab. Auch Massaker an Zivilist*innen oder die Destruktion der Infrastruktur und Energieversorgung in der Mitte des Winters, um so viel Leid und Not wie es nur geht zu erzeugen, gehören zum Repertoire dieser Aggression. Gleichzeitig werden tausende von zwangsrekrutierten russischen Bürger*innen, insbesondere aus marginalisierten Regionen und Nationalitäten, durch Russland verheizt. Ukrainer*innen fanden sich von der Situation selbst an die Front versetzt, um ihr Leben zu verteidigen. Direkt wurde klar: Es hängt davon ab, wie und mit welchen Mitteln die Ukrainer*innen sich verteidigen können, wie Leid verhindert oder zumindest gemindert wird und Putins Aggression aufgehalten werden kann. Das Sterben zu verhindern – darum geht es an erster Stelle, wenn man auf diesen Krieg schaut.

Diplomatische Verhandlungen waren bisher nie eine realistische Option

Von Seiten der russischen Staatsmedien wird der Ukraine immer wieder ein Abbruch der Verhandlungen vorgeworfen. An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass die ersten Bedingungen Russlands quasi eine Selbstauflösung ukrainischen Lebens bedeutet hätten. Die Verhandlungen des Istanbuler Kommuniqués wurden in einem Zeitraum abgebrochen, als die Kriegsverbrechen in den befreiten Gebieten wie Butcha oder Irpin an die Öffentlichkeit gelangten. Im Angesicht des Grauens der systematisch verübten Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung weiterhin auf die Verhandlungsbereitschaft Russlands zu pochen, entlarvt die menschenfeindliche Elemente des querfrontlerischen Pazifismus.
Ja, tatsächlich geht es in diesem Krieg auch um eine Alternative innerhalb des falschen Ganzen dieser Weltordnung: Soll sich die Ukraine als liberale Demokratie weiterentwickeln oder zum Einflussbereich des russischen Neo-Imperiums Putins als Vasallenstaat zurückkehren? So unbefriedigend die Alternative einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, so klar ist es, dass diese die bessere ist.
Die russische Aggression manövriert die Menschen in der Ukraine in eine existenzbedrohende Situation. Sie beraubt sie jeglicher Alternative und zwingt sie zunehmend dazu, zwischen Leben und Tod zu wählen – und im Angesicht der tausenden zivilen Todesopfer scheint es absurd, sich dieser Alternative zu entziehen.

„The dogma of some left is, whoever you are, no matter how brutal the dictatorship, if NATO is against you, there must be ultimately something not totally bad in you. NATO is the automatic opponent. And I find all this reasoning so stupid… .“

Zizek

II.              Putins Russland: Alle für einen – einer für alle?
Man muss dabei im Blick behalten, was Putins Russland ist, wie es funktioniert, warum sich dessen Form und Politik wesentlich unterscheiden von derer bürgerlicher Demokratien und was die Aggression damit zu tun hat: Russland lässt sich aktuell am besten als sogenannter „Racket-Staat“ beschreiben. Mit dem Zerfall der Sowjetunion etablierten sich nur schwach bürgerlich-liberale Verkehrsformen, während gleichzeitig kapitalistische Wirtschaft in Form eines enorm deregulierten freien Marktes Einzug hielt. Das hat nicht zuletzt mit dem Handeln westlicher Akteur*innen nach dem Zerfall der Sowjetunion zu tun. In diesem Zusammenhang bildeten sich untereinander konkurrierende, bandenähnliche Machtfraktionen, die die reguläre Wirtschaftstätigkeit bestimmten. Putin machte sich auf, die Konkurrenz unter den Banden zu koordinieren: Er selbst bändigt dabei einige Rackets mit den Mitteln des staatlichen Gewaltmonopols, verteilt die Beute und lässt die Rackets um seine Gunst und um den Einbau ihrer Interessen in staatliche Ziele streiten. Die dabei erzeugte Einheit ist eine dynamische und daher instabile. 

Dabei muss auch die ideologische Komponente des Krieges beleuchtet werden. Unter Putin hat sich ein nationalistisches bis völkisches Denken verbreitet. Russland habe zu einer alten Größe zurückzukehren. Diese Größe wird dabei mystisch aufgefasst und aufgeladen: Das russische Volk müsse seine Seele und seine ursprüngliche Mission unter den Völkern wiederfinden. Diese bestehe darin, sich gegen die Dekadenz des Westens zu stellen, die Verbindung mit einem ursprünglichen Ganzen hochzuhalten. Dabei wird ein Kampf gegen Individualismus, den Materialismus des Westens und dessen „Nihilismus“ herbeigeschworen in dem man sich gegen „Globalisten“, „Finanzeliten“, „Genderideologie“ etc. in Stellung zu bringen habe – Interessen, wie sie auch die Neue Rechte und Alt-Right-Bewegung formulieren. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Ideologie des Eurasismus, wie sie etwa Dugin (der sich offen an Begleit-Denker des Nationalsozialismus wie Schmitt und Heidegger anlehnt), der christliche Faschist Ivan Ilyin oder Prochanow vertreten.

Die Sowjetunion wird dabei partiell aufgewertet, dabei jedoch ausschließlich als Zeichen nationaler Größe und Macht gedeutet. Dadurch wird Putin nicht zufällig zum Modell und Verbündeten der Neuen Rechten weltweit: Putin erhebt sich gewissermaßen zur Gallionsfigur der neuen Internationalen der „Souveränisten“ in den Parlamenten und ihrer außerparlamentarischen Bewegungen. Die Ukraine wurde in diesem Zusammenhang in typisch völkisch-faschistischer Manier selbst als dekadent, künstlich, „unrussisch“ gekennzeichnet, zum Sinnbild zersetzender Kräfte gemacht und im Stile einer Täter-Opfer-Umkehr – mit deutlich antisemitischen Motiven – als Aggressor dargestellt.

Auch die orthodoxe Kirche gewann erneut an Bedeutung, wobei der orthodoxe Glaube als Ausdruck der „russischen Seele“ und als Vorbereitung zum Opfer für das Ganze abgerufen wird. Der Patriarch Kirill erklärt mittlerweile den russischen Angriffskrieg zum „Heiligen Krieg gegen den Satanismus“. Demokratie, LGBITQ+-Rechte, Zivilgesellschaft: All das wurde und wird als unrussisch und westlich markiert und bekämpft. Am brutalen und mörderischen Umgang mit der queeren Community, am von Frauen- und Queerfeindlichkeit durchsetzten russischen Alltag kristallisieren sich die lebensfeindlichen Auswirkungen dieser regressiven Welten und Ideologien.

III.            (Neo-)imperialistische Sehnsüchte
Dem entspricht auch Putins Außenpolitik: Sie dient einerseits zur Erzeugung innerer Einheit – in der Befriedigung der konkurrierenden Machtbanden, in der Stärkung nationaler Identität. Sie inszeniert sich darin auch als „Widerstand“ gegen eine künstlich potenzierte Aggression des Westens gegen Russland, die man abwehren müsse. Sie ist dem „Schmerz“ geschuldet, den alten Einfluss auf die ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion verloren zu haben. Damit ist auch klar, dass die Gefahr für Grenzstaaten Russlands, zu Vasallenstaaten gemacht zu werden, keine Phantasterei ist. Außerdem zielt Putins Außenpolitik auf die Destabilisierung der internationalen Politik ab. Damit ist sehr wohl der Angriff auf die Ukraine als Teil eines Kampfes gegen die bürgerlich-liberale Ordnung zu sehen: Im Namen von etwas deutlich Regressiverem.

IV.            Lebend die befreite Gesellschaft erreichen
Oft kommt aber der Einwand: Ist nicht auch die Ukraine auf eine Weise nationalistisch, die für progressive Menschen unerträglich sein sollte? Sterben hier nicht auch Menschen für einen Nationalstaat? Eine radikale Kritik an Staat und Nation muss von einer progressiven Linken natürlich immer geübt werden (auch an der Ukraine, bei gegebener Zeit). Eine solche Kritik gelingt aber ohnehin nur zusammen mit einer Kritik von Kapital und Weltmarkt, mit einer Kritik der Gesamtverhältnisse. Angesichts der Notlage der Menschen in der Ukraine direkt auf diese Ebene zu springen, verschiebt aber den Fokus und lenkt von dem, worum es gerade geht, ab: der Abwehr eines tödlichen Angriffskrieges. Die Sehnsucht nach der befreiten Gesellschaft lässt man damit zur Floskel verfallen und bringt dabei die hunderttausenden akut Betroffenen schlichtweg nicht weiter – weil sie in der schlimmen Realität eines Krieges keine konkreten Handlungsoptionen unterbreitet. Hoffnung stiftet hier das, was die ganz simple Aussicht auf Überleben fördert. Die befreite Gesellschaft ist auch der Fluchtpunkt unserer Kritik: Sie darf aber nicht zur Flucht in eine abstrakte und generische Kritik werden, wenn es gerade um ein bestimmtes Urteil geht – dann ruft man die Namen der Befreiung ins Leere und macht sie zu Worthülsen. Hier geht es um den konkreten Erhalt des Lebens von Menschen und die Absicherung der minimalsten Freiheiten.

Der Fall Ukraine macht auch deutlich, was ein bürgerlich-liberaler Nationalstaat in der Gesamtheit des Falschen sein kann. In einer Welt von Staaten und Nationen werden – leider! – bestimmte Rechte und Freiheiten nur durch den Staat garantiert; ein bürgerlicher Rechtsstaat bewahrt seine Bürger*innen immer noch vor einer unmittelbaren Subsumtion unter das Volkskollektiv und lässt sich selbst von den Einzelnen anfechten. Dass aber diese Freiheiten existieren, ist die Voraussetzung, um ihre Verbindung mit der Staatsform überhaupt erst zum Gegenstand einer emanzipatorischen Kritik machen zu können. Und die Vorbedingung für jede emanzipatorische Revolution. Gerade eine Orientierung an der befreiten Gesellschaft verlangt den Einsatz gegen die größere Regression, ohne in die Apologetik bürgerlicher Gesellschaft zu verfallen. Eben das gelingt aber wiederum nur, wenn man auch in der Lage ist, eine Kritik ums Ganze, eine Kritik der Formen kapitalistischer Vergesellschaftung einschließlich ihrer immanenten Antagonismen zu leisten: Wenn man dann auch in der Lage ist, den liberalen Staat aufs Schärfste der Kritik zu unterziehen, ohne daraus eine Pose zu machen. 

Wir betonen es gerne noch einmal: Hier geht es um Leben oder Tod, um Aggressor und Angegriffene, um Schutz oder Ausgeliefertsein. Eine eindeutige, solidarische Positionierung müsste eigentlich ganz leicht fallen.

Deshalb…

…stehen wir uneingeschränkt auf der Seite der Menschen in der Ukraine, hier und jetzt, mit den Mitteln, die im Gegebenen notwendig sind. Wir sehen die Notwendigkeit der Selbstverteidigung, mit der Leben und Freiheit geschützt wird. Nach Walter Benjamin ist das: „Gewalt um des Lebendigen Willen“.

…stehen wir gegen die russische Aggression, aber auch gegen all das, was Putins Russland repräsentiert: Die Möglichkeit der größeren Regression, des Schlimmeren als eine kapitalistisch-liberale Ordnung. Die durchaus blutige Horizontlosigkeit der liberalen Demokratien ist verteidigungswürdig angesichts des offenen Todeskultes aller Putins, Khameneis usw. Das Infame gehört zurückgedrängt und besiegt!

…sind leere Rufe nach Frieden und Verhandlungen zu denunzieren, da sie jeglichem Realitätsbezug entbehren: sie sind nichts als zynische Worte auf dem Rücken tausender Opfer. Denn wie anmaßend, gefährlich, realitätsfern und naiv ist die bürgerlich-pazifistische Forderung nach einem Einstellen von (über-)lebensnotwendiger Selbstverteidigung. Jene Forderungen sind oft genug nur identitäre Selbstvergewisserung und leere Schablonen. Hoffnung hingegen ist immer nur konkret, sie muss in der Geschichte getan werden.

…stehen wir auch gegen die Instrumentalisierung der Solidarität mit der Ukraine, um willkürliche Erhöhungen des Militäretats durchzusetzen und deutschen Militarismus zu schüren, oder um zurück zur Braunkohle zu kehren – die keine Unabhängigkeit vom russischen Gas verschafft. Diese Verflechtungen, bei gleichzeitigem Zögern in der Unterstützung der Ukraine, zeigen, dass es dem freiheitlichen Westen selten wirklich um Freiheit geht – zumindest nicht um die der anderen.

…stehen wir solidarisch mit der ukrainischen Linken, die es auch in einer freien Ukraine sehr schwierig haben wird – aber dort erst ihre Kämpfe austragen kann.

…sind wir solidarisch mit den russischen Dissident*innen und vielen Protestierenden, die jeden Tag Gefängnis und Repressionen riskieren – und in einigen Fällen um ihr Leben fürchten müssen. Wir sind solidarisch insbesondere mit Queers, Linken, Aktivist*innen, Journalist*innen, deren Leben und Handeln tagtäglich bedroht wird. Wir hoffen, dass sich in Russland eine progressive Zivilgesellschaft etablieren und der vollkommene Übergang zu einer völkischen, ultra-reaktionären Diktatur aufgehalten werden kann.

…bleiben wir dabei: Für die Befreiung der Ukrainer*innen! Für den Sieg gegen Putin!