Bei Walter Benjamin heißt es:
„Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnahmezustand in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht.“
Die Pandemie hat uns alle mit einer Ausnahmesituation konfrontiert. Tatsächlich versetzt ein tödlicher Virus in das, was Ausnahmezustand kennzeichnet: Dass das Leben der Einzelnen zur Disposition steht. Doch die Gesellschaft hat – trotz Verfehlungen und Schwankungen – diese unmittelbare Bedrohung in vielen Fällen abgwehrt und sich um Wege des Schutzes gekümmert. Klar, die Maßnahmen verliefen nicht unbedingt rational, sie mussten sich immer den Interessen der Kapitalakkumulation beugen und erfordern gewisse private Verzichte. Man hat aber tendenziell versucht, den Tod als hinzunehmende Option, zu vermeiden (…zumindest wenn es nicht um Großraumbüros oder Schlachthallen ging).
Doch für relevante Teile der Menschheit galt diese Bemühung nicht. Nicht nur wurden sie von Schutzmaßnahmen ausgeschlossen (und werden in Zukunft erstmal keine Aussicht auf Impfungen haben): Ihre marginalisierte Lage, hat die Konsequenzen der Pandemie noch einmal gestärkt. Wer gezwungen ist, in Masseinrichtungen zu wohnen, kann schlecht körperliche Distanz bewahren; Wo hygienische Mittel und medizinische Hilfe fehlen, wird alles bedrohlicher.
Wenn man genau hinschaut, erkennt man: Die Pandemie hat eine Aufteilung der Menschheit, die es schon gab, noch deutlicher gemacht. Auf der einen Seite die, die normal in die Herrrschaft von Staat und Kapital integriert werden und deren physische Überleben zumindest ein allgemeines Anliegen ist. Dort diejenigen, deren Leben für diese Gesellschaft egal ist, also schon immer zur Disposition stehen könnte. Sie leben in einem permanenten Ausnahmezustand. Für sie ist es schon immer ein Kampf ums Überleben, ohne Garantien.
Die Worte Benjamins machen dies deutlich: Es gibt ein Teil der Menschheit, für die dieser Ausnahmezustand, die Regel ist. Das heißt aber: Diese Geschichte, diese Gesellschaft ist erst dann begriffen, wenn man diesen permanenten Ausschluss, diese permanente Bedrohung für viele, wahrnimmt und benennt.
Und so haben wir hier, vor er ZUE, in vielen Reden in den letzten Monaten darauf hingewiesen, dass eine solche Einrichtung Teil eines Systems ist, die die Last dieses Ausnahmezusands auf Migrant*innen systematisch Reproduziert. Das ist nämlich die Logik von Aufenthalts- und Abschiebelagern: Den Menschen, die hier leben müssen, wird es verwehrt, sich auf ein verlässliches Recht berufen zu können;die Willkür der Abschiebung droht permanent.
Die Konsequenz einer Abschiebung ist doppelt: Einerseits der Ausschluss, aus dem hiesigen Raum des Rechtes (und das Recht ist das, was garantiert, dass man nicht von Willkür abhängig ist); anderseits die Zurückführung zu Orten, aus denen Menschen oft deshalb geflohen sind, weil dort ihr Leben erst Recht zur Disposition stand.
Für Menschen in Einrichtungen wie die ZUE, Menschen auf der Flucht, Menschen in den griechischen Lagern und für Menschen, die über flucht Nachdenken müssen, ist der Ausnahmezustand die Regel.
Ein Leben aber unter dem permanenten Ausnahmezustand, ist zermürbend – es kann innerlich kaputt machen.
Viele der Reden und Gesprächen mit Menschen, die in der ZUE leben müssen, haben deutlich gemacht, wie scheiße die Lage ist. Viele haben auch Mut gegeben: Diese Lage hat der Wille zu Leben, durchzukommen und sich gegen dieses System des Ausschlusses zu wehren – auch nur dadurch, dass man nicht von seinen Klauen entflieht – nicht zerstört.
Besonders Wichtig ist aber die Einsicht, dass diese Institutionen und Praxen der Willkür, eben System haben, das System sind: Sie sind Teil des Normalbetriebs von Staat und Recht. Sie sind ein Moment jener Gesellschaft, die in ihrem Inneren mehr Rechte und Wohlstand, mehr Möglichkeit zur Bildung und zum Lebensgenuss garantiert als anderswo. Auch, dass der Ausnahmezustand für viele zum Begriff dieser Rechtlichen und sozialen Ordnung gehört macht deutlich, dass das Problem tiefe Wurzeln hat, einer radikalen Überwindung bedarf.
Die Worte von Benjamin gehen so weiter: „Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen“. Das heißt: Eines Zustands, indem der Normalbetrieb dieser Gesellschaft – zu dem Abschottung, Abschiebung, Sterben-lassen-Im-Mittelmeer, Hierarchisierung von Menschen und vieles andere gehört – in dem dieser Normalbetrieb in Frage gestellt wird und unterbrochen werden kann. Dafür stehen wir heute erneut hier und werden dies auch weiter tun.
Kein Frieden mit diesen Zuständen. Keine Normalisierung dieses permanenten Zustands der Ausnahme. Für eine dauerhaft befreite Gesellschaft!