Ein Jahr nach dem Anschlag in Halle. In Gedenken an Jana L. und Kevin S.. In Solidarität mit allen Betroffenen. Gegen den deutschen Alltag.
Und wieder ist man über antisemitische Vorfälle überrascht. Und wieder trauert man über tote Juden:Jüdinnen oder solche, die es beinahe geworden wären – hat davor aber nichts getan. Und wieder treffen antisemitische Anschläge „uns alle“. Und das Problem heisst wieder noch einmal generisch „Hass“. Und wieder fordert man Juden:Jüdinnen auf, sich bitte nicht so anzustellen, sich nicht so verfolgt zu fühlen, sich nicht abzuschotten, sich nicht immer als Opfer darzustellen – und mehr für Versöhnung zu bemühen. Und wieder werden rechtsterroristische Attentäter als Einzelfälle verharmlost, während der tägliche Einzelfall in der Polizei grüßt.
Willkommen in Deutschland.
Auch der Schock nach dem Anschlag von Halle wurde schnell vom Strudel der üblichen Beileidsbekundungen und Scheindebatten aufgesaugt.
Erst der Einsatz von direkt Betroffenen und anderer jüdischer Menschen, die sich als Nebenklage im Prozess betätigt haben und um eine andere Öffentlichkeit bemüht haben, hat die rituelle Parolen unterbrochen. Und deutlich gemacht: „Nach Halle“ hat sich wenig verändert, Institutionell und gesamtgesellschaftlich.
Es folgen einige Blitzlichter zur Kritik dieser Verhältnisse.
1. „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“
Was der Anschlag für jüdische Menschen in Deutschland bedeutet hat schildern beispielhaft zwei Zeuginnen, die im Laufe des Prozesses das Wort genommen haben.
Die Nebenklägerin, Rabbinerin Rebecca B. verweist auf die Kontinuitäten mit der Shoah und ihren Konsequenzen, die ganze Familiengeschichten prägen: „auch wenn die Schoah beendet ist, sind es nicht ihre Folgen. Sie sind etwas, was noch heute für uns präsent ist“. Das Attentat in Halle habe auch Familentraumata reaktiviert.[1]
Naomi H. erzählte, wie sie in der Überzeugung erzogen worden sei, in Deutschland habe man „aus der Vergangenheit gelernt“. Doch mit der Zeit sei ihr Vertrauen verblasst. Sie beschloss, Deutschland zu verlassen und begann ihr Leben in Israel neu an. Als sie auf ein ansprechendes Programm zur Rabbinat-Ausbildung in Berlin aufmerksam wurde, beschloss sie doch nach Deutschland zurückzukehren. Sie wollte ihren Beitrag leisten, um jüdisches Leben in Deutschland wieder wachsen zu lassen. Und dann kam das Attentat. Ihr Fazit lautet nun mit Heines Worte: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“. Selbst in der medialen Aufarbeitung des Attentats, bewähren sich Heines Worte: Immer wieder wurde das Lob der Tür aus deutscher Eiche gewoben, die vor dem Massaker geschützt habe. Darin kommt das Bedürfnis zur Geltung, „den einen guten Deutschen“ ausfindig zu machen. Ein Teil klassischer Schuldabwehr.[2]
Im Land der Täter ist jüdisches Leben nicht leicht. Es wird immer noch zu wenig gemacht, um jüdisches Leben zu ermöglichen; an erster Stelle stehen viel zu oft Schuldabwehr und die Arbeit am Mythos der Wiedergutwerdung. Viel zu oft scheinen Juden:Jüdinnen zum Mittel für diesen Zweck zu werden.
2. Polizei und Behörden
Der Halle-Attentat wirft besonders die Frage des #Polizeiproblems auf.
Antisemitismus funktioniert so, dass es für Juden:Jüdinnen polizeilichen Schutz notwendig macht. Auch wer – wie wir – eine grundsätzliche Kritik der Polizei vertritt, muss die Notwendigkeit dieser Funktion anerkennen.
Umso schlimmer ist es, dass die Polizei in dieser Hinsicht auf viele Ebenen versagt, punktuell und strukturell. Nicht nur war am Tag des Anschlags in Halle keine Polizei vor der Synagoge – am höchsten jüdischen Fest: sie wussten nichts von Jom Kippur. Polizeischutz wurde häufiger angefragt, aber abgelehnt.
In den Ermittlungen blieben die Ideologischen Hintergründe des Attentäters und die Ähnlichkeiten zu den Attentaten in Oslo, Utøya, Christchurch, El Paso, München unterbelichtet; man pflegte die Erzählung vom Einzeltäter, weil ja keine strukturierte Vernetzung nachweisbar sei. Darin ist die Polizei tastächlich Spiegel der Gesellschaft.
Der Landesinnenminister Stahlknecht vertrat diese Position seit der ersten Stunde und liegt nun Nahe, dass der Schutz jüdischer Einrichtungen als Hindernis für andere polizeiliche Aufgaben wirke. Verharmlosung und Täter-Opfer Umkehr, wie nach Programm. Da ist ein Rücktritt dasMindeste.
Gleichzeitig sind diese Behörden Teil des Problems. Denn die Polizei ist stärker als diese Gesellschaft in ihrer Besetzung und in ihren Strukturen von faschistsichem Gedankengut, Rassismus und Antisemitismus gekennzeichnet. Wie kann eine Polizei, die von Antisemit:innen und Rassist:innen, die sich sogar in Netzwerke organisieren, durchsetzt ist, ernsthaft vorantisemitischer und rassistischer Gewalt schützen? Anderseits ist es einfach kein Zufall, dass solche Netzwerke in der Polizei entstehen. Sie ist zum einen attraktiv für autoritäre Charaktere, für nationalistisch und chauvinistsich gesinnte; zum anderen schützt sie genau jenen Status quo, aus dem sich Antisemitismus und Rassismus speisen.
Doch laut Selbstauskunft der Polizei und Seehofers hat ja die Polizei kein Problem mit Rechtsextremismus in den eigenen Reihen; Studien und unabhängige Beschwerdestellen seien nicht notwendig – oder will man die Polizei unter Generalverdacht stellen? Das wäre jamenschenverachtend, ja fast rassistisch (clowngesicht)
3. Antisemitismus und Rechter Terror
Der Attentat in Halle war ein rechtsterroristischer Anschlag. Deshalb muss der Fokus auf die Bekämpfung rechten Terrors gehalten werden. Deshalb sind die Mängel darin so gefährlich.
Der Attentäter ist Vertreter einer gegenwärtig sehr verbreiteten Ausprägung antisemitischer Verschwörungstheorie: Feminismus, angefeuert vom (jüdischen) “Kulturmarxismus” führe u.A. zur niedrigen Geburtenrate in Europa. Diese diene zur Rechtfertigung einer – jüdisch gesteuerten und finanzierten – Masseneinwanderung, mit der die “europäischen Völker” zersetzt werden sollen, um leichter von – jüdischen – „Eliten“ kontrolliert werden zu können. Es ist die alte und stets lebendige Leier der Juden als Anti-Volk, das „Völker“ daran hindert, zu sich zu kommen und ihre „Identität“ zu entfalten. Im Weltbild des Rechtsextremen gehören diese Elemente eben zusammen: Antifeminismus, Rassismus, und Antisemitismus. Antisemitismus ist dabei der Kitt – auch dort, wo dieser nicht explizit zum Ausdruck kommt. Denn verschwörungstheoretische Muster und faktisch völkisches Denken mündet unweigerlich in Antisemitismus.
All das ist aber nicht nur Kernbestandteil der Weltanschauung der Identitären, die von den Attentäter von Utoya und Christchurch geteilt wurde, sondern wird auch in abgewandelter Form von der parlamentarischen “neuen” Rechten wiederholt: von Salvini bis zu AfD & FPÖ , von Orban bis Le Pen, von Bolsonaro bis Erdogan. Sie müssen dabei nicht explizit sei – auch wen sie es häufig genug sind -, es genügen Andeutungen. All das wird auch gerne in Polizeichats geschrieben.
So muss man keine organisierte Verbindung zwischen dem einzelnen Handelnden und organisierte Rechte nachweisen, um seinem Handeln politische Bedeutung beizumessen. Sein Handeln ist genau darin politisch, dass er sich in seinem Wahn als einzelner mobilisieren lässt und das Projekt der rasenden Vernichtung auf sich nimmt, sich selbst zum ausführenden Organ machend. Darin ist er eins mit der potentiell mobilisierten Volksmasse.
Gerade das aber ist ein Merkmal rechten Terrors, der nicht ohne die Agitator*innen und deren Normalisierer*innen zu haben ist.
Dass Sicherheitsbehörden immer noch unfähig sind, die Funktionsweise diesen Terrors zu erkennen und z.B. an der Kategorie des Einzeltäters festhalten, ist absurd.
Anderseits: Uns wundert es nicht.
Wir fordern dagegen:
– Rechte entwaffnen, rechte Terrorvernetzungen zerschlagen;
– Über die Verstrickungen von Verfassungsschutz und rechte Netzwerke aufklären;
– Rechte Agitator*innen – auch in den Parlamenten – isolieren, ihnen keine Bühne bieten, ihre Selbstverharmlosung zurückweisen.
Wir wissen dabei: Dabei ist auf diesen Staat kein Verlass.[3]
4. „Antisemitismus kommt niemals allein“ [4]
Die Ideologie des Attentäters zeigt dabei klar, dass im Denken der neuen Rechten, Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus eng verflochten sind. Beim Anschlag in Halle kam dies überdeutlich zum Ausdruck: Eine Synagoge wurde zum Hauptziel auserwählt, nachdem der Attentäter darüber nachgedacht hatte, eine Moschee oder eine linke Einrichtung anzugreifen. Nach dem misslungenen Anschlag auf die Synagoge, griff er einen Döner-Restaurant an und fuhr zwei schwarze Menschen an. Zuvor hatte er sich extrem frauenfeindlich geäußert.
Antisemitismus, Rassismus, Antifeminismus und Queerfeindlichkeit gehören gemeinsam bekämpft. Ihre Bekämpfung verlangt Zusammenarbeit und Solidarität.
Gleichzeitig müssen sie in ihrer spezifischen Funktionsweise erkannt werden und je auf eine spezifische Art bekämpft werden.
5. Im eigenen Umfeld anfangen
Nicht nur, nicht erst und leider nicht zuletzt Halle zeigt, dass Antisemitismus eine reale und aktuelle Gefahr ist.
Schon die vergangene Woche liefert genug belege: Der Angriff am ersten Feiertag von Sukkot vor der Hamburger Synagoge auf einen jüdischen Studenten; einige Tage davor die Schändung der Mesusa am Eingang der Synagoge in der Passauer Straße in Berlin; am 6.10. die Pläne eines rechtsextremen Jugendlichen, eine Synagoge anzugreifen.
Es ist eine antisemitische Normalität.
Doch wo soll man anfangen, Antisemitismus zu bekämpfen?
Im eigenen Umfeld. Dazu gehört auch, dass man lernt, Antisemitismus in den Formen, die im eigenen Umfeld verbreitet sind, zu erkennen. Man muss davon ausgehen, dass Antisemitismus in dieser Gesellschaft überall präsent sein kann – auch dort, wo es nicht zum Bestandteil der jeweiligen Weltanschauung gehört. Auch schleicht sich Antisemitismus gerne in verfehlte Formen in der Intention richtiger Kritik ein. Das fordert besondere Wachsamkeit.
Als linke Gruppe betrachten wir mit Sorge linken Antisemitismus. Dieser ist auch deshalb besonders gehässig, weil er antisemitische Motive mit wichtigen Anliegen verbindet.
Besonders irritierend finden wir antisemitische Vorfälle im Kontext der so wichtigen antirassistischen Bewegungen: egal ob in Wien [5], Frankfurt[6] oder Münster [7]. Wie kann es sein, dass sogar Kämpfe gegen Rassismus und der Einsatz zur Stärkung migrantischer Kämpfe und Anliegen immer mal wieder instrumentalisiert werden für Anti-Israel Aktionen?
Diese Vorfälle führen unter anderem dazu, dass viele jüdische Menschen sich in Zusammenhänge, in denen überaus wichtige Kämpfe artikuliert werden, sich nicht wohl fühlen können. Das muss ganz sicher nicht so sein.
6. Ums ganze
Der Kampf gegen Antisemitismus mündet aber darin, die gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen dafür, dass Antisemitismus – zumindest in seinen gegenwärtigen Formen – immer wieder entsteht, zu beseitigen.
Antisemitismus hat viel mit misslungener Emanzipation zu tun: Es entspringt aus unversöhnten Verhältnisse als Kompensation oder gar als wahnhafte Erlösungsvorstellung aber auch als Implikat verkürzter oder verkehrter Emanzipationsansätze.
In der noch nicht befreiten Gesellschaft, ist der Kampf gegen Antisemitismus, auch in der Form des Schutzes gegen die Konsequenzen von Antisemitismus, ein eigenes Kapitel und muss als eigener Zweck betrachtet werden. Deshalb sind Notwehr-Maßnahmen so wichtig.
Und doch bleibt unser Horizont, das Ende dieser Verhältnisse, die Befreiung ihrer Opfer.
7. Wehrhaftig für das Leben
Zum Glück sind Juden und Jüdinnen nicht wehrlose Opfer und sehen sich auch nicht als solche-auch wenn die deutsche Mehrheitsgesellschaft sie immer in diese Rolle drängt und oft den Eindruck hinterlässt, sich nur um den wehrlosen Juden zu interessieren.
Ruben Gerczikow von der JSUD schreibt klar: „Wir sehen uns nicht als Opfer und wollen auch nicht als Opfer gesehen werden.“ [8] „Als Jüd:innen sind wir so viel mehr. Wir sind widerständig, wir sind vielfältig, wir sind mutig“. (Zum Glück hat sich diese Widerständigkeit auch einen Staat gegeben: Auch um nicht von Seehofers und Stahlknechts im Schutz des eigenen Leben abhängig sein zu müssen, um nicht auf Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung angewiesen zu sein [9])
Zum Glück organisiert sich Widerstand und Selbstschutz, betroffene von Antisemitismus, Betroffene von Rassismus, Antifaschist:innen finden verstärkt zusammen. Darauf wollen wir setzen!
In Gedenken an Jana L. und Kevin S.. In Solidarität mit allen Betroffenen.
Kein Vergessen. Auf das Leben, auf die Widerständigkeit!
[1] https://democ.de/10-verhandlungstag-prozessprotokoll/
[2] https://democ.de/10-verhandlungstag-prozessprotokoll/
[5] https://www.juedische-allgemeine.de/meinung/bds-missbraucht-gedenken/
[6] https://diskus.copyriot.com/news/antisemitismus-frankfurt
[7] https://eklatmuenster.blackblogs.org/2020/08/26/so-nicht/
[9] https://eklatmuenster.blackblogs.org/2018/07/24/ja-israel-darum-eine-kleine-handreichung/